Alle Beiträge von twb

Gros

Im Dezimalsystem, mit der Basis 10, rechnen wir von Kindsbeinen an, doch auf dem Markt zählen wir nach wie vor im Duodezimalsystem, vor allem mit dessen Basis, dem Dutzend. Im Handel war lange Zeit noch ein anderes Zählmass gebräuchlich: das Gros. Ein Gros, das sind zwölf Dutzend, also 144 Stück einer bestimmten Ware. «Gros» kommt vom altfranzösischen Ausdruck grosse douzaine, «grosses Dutzend».

Das Gros wiederum – also die Zahl 144 – wird gelegentlich auch «kleines Gros» genannt, im Gegensatz zum «grossen Gros» (oder auch «Mass»), das zwölf Gros bedeutet, also 1728 Stück. Der Handel in grossen Stückzahlen heisst in der Kaufmannssprache deshalb «Engroshandel», ein «Grossist» ist folgerichtig ein Grosshandelsunternehmen.

Rechnen in Gros (mit dem Einheitenzeichen gr) haben wir längst verlernt. Und doch ist uns das Wort sehr vertraut, nämlich wenn wir in der Migros einkaufen. Den Namen «Migros» hat deren Gründer Gottlieb Duttweiler nach eigenen Angaben 1925 selbst erfunden, und er kommt ebenfalls vom Gros. «Migros» sollte die Positionierung des Unternehmens ausdrücken – mit Preisen in der Mitte zwischen en-gros und en-détail, auf französisch also demi-gros oder eben mi-gros. «Migros» heisst also im Grunde nichts anderes als «Mittelhandel».

Die Migros als Brückenbauerin zwischen Hersteller und Kundin, zwischen Engros- und Einzelhandel: Nicht umsonst war 75 Jahre lang auf allen Migros-Packungen das Symbol einer Brücke abgebildet.

Latènezeit

Der Bieler Oberst Friedrich Schwab war vermögend – und ein begeisterter Sammler. In seinem Auftrag suchte der Fischer Hans Kopp 1857 am Neuenburgersee nach archäologischen Fundstücken. Schon früher waren da immer wieder Überreste prähistorischer Siedlungen entdeckt worden. Am Ausfluss der Zihl, in der heutigen Gemeinde La Tène, stiess Kopp unverhofft auf Pfähle, die aus dem flachen Seegrund ragten. Mit langen Zangen gelang es ihm, in nur einer Stunde vierzig erstaunlich gut erhaltene Eisenwaffen aus dem Wasser zu ziehen. Sie stammten aus dem 3. und 2. Jh. v. Chr., einer Zeit, in der die Kelten die Gegend besiedelt hatten.

Und das war nur der Anfang: Ende des 19. und Anfang des 20. Jh. wurden am See grossangelegte Grabungen durchgeführt. Dabei entdeckten Archäologen Tausende Fundstücke: Waffen – Schwerter und Schwertscheiden, Dolche, Lanzenspitzen und Schilde –, daneben auch Schmuck, Werkzeug und Kessel. Im feuchten Boden hatte sich nicht nur Metall erhalten, sondern sogar Holz, Textilien und Flechtwerk.

Doch was um Himmels willen hatte sich da einmal befunden? Die Spekulationen reichten vom Pfahlbauerdorf, einer Fluchtburg, einer Zollstation und einem Waffenlager bis hin zum Heiligtum. Heute dagegen glauben Forscher, dass sich in La Tène einst ein Kriegerdenkmal befunden hat, in dem die Waffen einer wichtigen Schlacht zur Schau gestellt wurden.

Was der Fischer Hans Kopp in La Tène entdeckte, war für die Wissenschaft so bedeutend, dass heute die jüngere Eisenzeit in Europa ganz einfach «Latènezeit» genannt wird.

Notnagel

Der sprichwörtliche Notnagel ist nichts, was man gerne wäre.

Du, Bursche? Was, du? Der Nothnagel zu sein, wo die Menschen sich rar machen?,

verhöhnt der Protagonist Major Ferdinand von Walter den dümmlichen, gestelzten Hofmarschall von Kalb in Friedrich Schillers Drama «Kabale und Liebe».

Der wirkliche Notnagel aber gehörte bis in die 1960er-Jahre zur festen Ausrüstung der Feuerwehr. Es ist ein rund 20 Zentimeter langer, kräftiger, spitz zulaufender Vierkantnagel, dessen oberes Ende eine seitliche Öse trägt, die aussieht wie ein nach unten offenes P. Den Notnagel trugen Feuerwehrleute in einer kleinen Ledertasche am Gürtel. Beim Bekämpfen eines Brandes konnte es nämlich vorkommen, dass ihnen die Flammen auf einmal den Weg abschnitten und ein Rückzug nicht mehr möglich war. Um sich in Sicherheit zu bringen, konnte der Feuerwehrmann seinen Notnagel mit dem Beil in einen Balken oder den Zimmerboden einschlagen und sich mit dem mitgeführten Seil durch ein Fenster hindurch ins Freie abseilen.

Eine Weiterentwicklung war der sogenannte Notring.

Dem Nothring ist der Vorzug vor dem Notnagel zu geben,

steht in den «Illustrierten Feuerlöschregeln für jedermann» von 1878,

da sein Stift mit starken Widerhaken versehen ist und dadurch ein Wiederherausgleiten desselben aus dem Holze nahezu unmöglich gemacht wird.

Der Notnagel oder der Notring waren daher alles andere als ein Notbehelf, sondern vielmehr ein einfacher, kostengünstiger und erstaunlich effektiver Lebensretter.

Trockenwohnen

1890, mit gerade mal 20 Jahren, verliert die spätere deutsche Gewerkschafterin Paula Thiede ihren Mann. Ein Schicksalsschlag, denn für mittellose Witwen gibt es weder Versicherungen noch staatliche Unterstützung. Paula zieht aus ihrer Berliner Mitwohnung aus, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten kann, und um nicht obdachlos zu werden, bleibt der Mutter zweier kleiner Kinder nur eines: Sie wird Trockenwohnerin.

In nur 20 Jahren, zwischen 1870 und 1890, hatte sich die Berliner Wohnbevölkerung auf 1,6 Millionen Menschen verdoppelt. Die stark wachsende Arbeiterklasse litt unter permanentem Wohnungsmangel und überhöhten Mieten, und so wurde überall gebaut. Mietskasernen schossen wie Pilze aus dem Boden. Die Wände wurden mit Kalkmörtel verputzt, der Wasser freisetzte und auch nach der Fertigstellung Monate brauchte, bis er vollkommen trocken war. Weil man aber eine müffelnde, feuchte Wohnung zahlenden Mietern nicht zumuten konnte, pflegten Bauherren den Wohnraum in dieser Zeit zu einem stark reduzierten Mietzins oder gar kostenlos zur Verfügung zu stellen. Nicht etwa aus Nächstenliebe, sondern aus ganz praktischen Überlegungen: Die Menschen beheizten die Neubauten allein schon mit ihrer Körperwärme, und das ausgeatmete Kohlendioxid liess den Mörtel schneller aushärten.

Keine Frage, dass das Trockenwohnen klammer Neubauten der Gesundheit alles andere als zuträglich war. Paula Thiedes zweitgeborenes Kind wurde krank und starb kurze Zeit später.

Aufmerksamkeitsökonomie

Die Wirtschaft wird in Sektoren eingeteilt: Landwirtschaft, Industrie und Gewerbe, Dienstleistungen. Daneben, so fand 1998 der deutsche Raumplaner und Ökonom Georg Franck, gibt es aber noch ganz andere Güter, die für die Gesellschaft wichtig sind: Die Aufmerksamkeit anderer Menschen. Neben der Ökonomie des Geldes, so schrieb Franck in seinem vielbeachteten Buch, gebe es auch eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, deren Kapital Prestige sei, Reputation, Prominenz oder gar Ruhm. Von anderen beachtet zu werden, sei für den Selbstwert des Menschen enorm wichtig.

Aufmerksamkeit ist kostbar – und hart umkämpft. In der Werbung ist beachtet zu werden bares Geld. Mehr noch: Wenn immer mehr Menschen sich Statussymbole leisten könnten, schreibt Franck, sei das, was die wirklichen Eliten heute ausmache, ihre Prominenz, ihr

Status des Grossverdieners an Aufmerksamkeit».

Und doch ist die Ökonomie der Aufmerksamkeit mit jener des Geldes eng verflochten. Wer nach Beachtung strebt, braucht Reichweite, wie sie nur die Medien zu bieten haben. Die wiederum sind auf Prominenz angewiesen, weil ihr Publikum Stars sehen will und nur dann die einträglichen Reklamen beachtet. Ruhm hat ein enormes Marktpotenzial. Das wissen Regenbogenpresse und Boulevardfernsehen, das weiss die Politik und die Kunst, und das wissen auch alle Influencerinnen und Youtuber.

Sonderlich viel Aufmerksamkeit dagegen wird dem Erfinder des Konzepts nicht zuteil: Ein Vortrag von Georg Franck aus dem Jahr 2013 kommt auf Youtube bis heute auf weniger als 2500 Klicks.