Spiegelschrift

Mailand, 1490. Der 38-jährige Leonardo da Vinci notiert:

Es ist nützlich, andauernd zu beobachten, aufzuschreiben und nachzudenken.

Wohin Leonardo auch geht, stets baumelt ein Notizbuch von seinem Gürtel, und in dieses Buch notiert das Universalgenie, was immer ihn gerade beschäftigt und was als nächstes zu tun ist. So steht da:

Die genauen Masse von Mailand berechnen,
den Professor fragen, wie man ein Dreieck in ein gleich grosses Quadrat umwandelt,
Karte von Mailand zeichnen.

Bloss: So einfach lesen lassen sich die Notizen nicht, denn bis auf Briefe, die für andere bestimmt waren, hat Leonardo alles in Spiegelschrift geschrieben, immer seitenverkehrt und von rechts nach links. Wer seine Aufzeichnungen entziffern will, muss sie vor einen Spiegel halten.

Die Wissenschaft hat lange darüber gerätselt, weshalb. Wollte Leonardo seine Erfindungen vor unbefugten Lesern schützen? War es eine Geheimschrift; eine Art Patentschutz? Die Antwort ist einfacher. Leonardo da Vinci war Linkshänder, und die Spiegelschrift bewahrte ihn vor dem Verschmieren der Tinte. Genutzt wird sie bis heute. Polizei-, Ambulanz- und Feuerwehrfahrzeuge, deren Beschriftung im Rückspiegel lesbar sein muss, werden vorn seitenverkehrt beschriftet.

Spiegelschrift von Hand ist eine Knacknuss. Wer Linkshänder ist wie Leonardo, aber mit rechts schreiben gelernt hat, ist dabei im Vorteil: Viele umgeschulte Linkshänder beherrschen die Spiegelschrift von Natur aus – ohne Übung und ohne nachzudenken, als ob sie schon immer so geschrieben hätten.