Spieglein, Spieglein an der Wand: Wer ist die Schönste im ganzen Land?
Mal für Mal bestätigt der Spiegel, die schönste aller Frauen sei sie. Schneewittchen wächst heran, bis der Spiegel endlich erkennt:
Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.
Das eigene Gesicht zu betrachten, ist dem Menschen nicht gegeben. Dazu ist eine spiegelnde Oberfläche nötig. Die Physik besagt, dass der Ausfallswinkel eines Lichtstrahls, der auf einen ebenen Spiegel trifft, genau so gross ist wie sein Einfallswinkel. Deshalb sehen wir jedes Detail, wie es ist – scheinbar, denn: Der Spiegel zeigt nie die Realität, sondern immer nur deren seitenverkehrte Reflexion. Diese Brechung hat die Menschen schon immer fasziniert: In der griechischen Mythologie verliebt sich der bildschöne Narziss unglücklich in sein eigenes Spiegelbild im Wasser.
Die ersten Spiegel, so nehmen Archäologen an, werden tatsächlich flache, mit Wasser gefüllte Schalen gewesen sein – oder mühevoll polierte Oberflächen, etwa des schwarzen Vulkansteins Obsidian. Die Herstellung von Bronze machte die Sache einfacher: In Mesopotamien wurden um 3000 v. Chr. erste Bronzespiegel hergestellt, Spiegel, von denen schon das Alte Testament erzählt und die im alten Ägypten und Rom bereits gang und gäbe waren.
«Spiegel» kommt vom lateinischen speculum, «Abbild», und Verhaltensforscher sehen im Erkennen des eigenen Spiegelbildes bei Tieren oder kleinen Kindern ein Zeichen von Intelligenz und Abstraktionsvermögen. Selbst im Digitalzeitalter ist der Spiegel so faszinierend wie eh und je. Was einst Narziss die Quelle, ist uns heute das Handy und seine Frontkamera.