Karat

Mehr als 0,6 Kilo brachte er auf die Waage, der grösste je gefundene Diamant – in einer südafrikanischen Mine, die dem Unternehmer Thomas Cullinan gehörte. Den Riesenstein entdeckt hatte 1905 der Minenleiter Frederick Wells, und er gab ihm den Namen seines Chefs, «Cullinan».

Nun wiegt kein Mensch Diamanten mit der Haushaltswaage. Und auch das Kilo als Mass ist viel zu grob – Diamanten misst man in Karat. Allerdings nicht, weil das vornehmer klingt, sondern weil viel genauer gewogen werden muss. Ein metrisches Karat entspricht 0,2 Gramm, und so kleine Gewichtssteine liessen sich in der Vergangenheit kaum mit der nötigen Genauigkeit herstellen. Also, so lautet die Legende, nahm man die Samen des Johannisbrotbaums, weil die alle ziemlich genau 0,2 Gramm wiegen. Daher auch der Name – Karat oder arabisch qīrāt kommt vom Griechischen kerátion, Hörnchen, wegen der gekrümmten Schoten des Johannisbrotbaums.

Nun fanden Forscher der Universität Zürich zwar heraus, dass das Gleichmass dieser Samen nichts als ein Märchen ist – ihr Gewicht unterscheidet sich gleich stark wie bei allen anderen Pflanzen –, aber Menschen können mit erstaunlicher Sicherheit die jeweils leichtesten und schwersten Samen von Hand aussortieren. Die Körner, die übrig bleiben, wiegen im Durchschnitt genau ein Karat, mit einer Genauigkeit von einem Hundertstelgramm.

Der «Cullinan» war, als ihn der überglückliche Minenleiter aus dem Boden holte, 3106,7 Karat schwer. War, Vergangenheitsform. Der Riesendiamant wurde 1908, nur drei Jahre nach seinem Fund, von einem holländischen Diamantschleifer in über 100 Teile gespalten. Die neun grössten Brocken wurden geschliffen, sind heute Teil der britischen Kronjuwelen und liegen im Tower von London.

Kaukasus

Der Kaukasus ist ein über 1000 Kilometer langes, von West-Nordwest nach Ost-Südost verlaufendes Gebirge zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer. Das haben wir in der Schule gelernt – und danach getrost wieder vergessen. Und so ist der Kaukasus geblieben, was er im Mittelalter für die Kartographen war: Die schrieben ratlos auf die weisse Fläche: terra incognita – hic sunt leones, lateinisch für: Unbekanntes Land; hier gibt es Löwen. Das klang gelehrt und vornehmer als «keine Ahnung».

Dabei hat der Kaukasus mit den Alpen vieles gemeinsam: Er ist ähnlich lang und breit – und hoch, sehr hoch: Sein höchster Gipfel, der Elbrus, ist über 5600 Meter hoch. Daher auch der Name: kauka- bedeutet in vielen Sprachen gewölbt, erhaben, herausragend. Kaukasus heisst also ganz einfach Berg – ein gewaltiger Berg, der sich über eine ganze Reihe von Ländern ausdehnt: Russland, Georgien, Armenien, Aserbeidschan, Türkei.

Hier leben über 50 verschiedene Völker mit ihren jeweils eigenen Sprachen. «Berg der Sprachen», so nannte ein arabischer Geograf den Kaukasus im 10. Jahrhundert. Und der römische Chronist Plinius der Ältere schreibt, dass die Römer in Suchumi, der heutigen Hauptstadt Abchasiens, allein 130 Dolmetscher benötigten. Diese Sprachenvielfalt ist keine blosse Laune der Geschichte. Mit seinen engen Tälern und den leicht zu verteidigenden Höhen waren die Berge ideale Rückzugsgebiete für Vertriebene aus den Ebenen Eurasiens, Anatoliens, selbst Persiens. Weil aber die Berge auch den Kontakt zwischen den einzelnen Stämmen erschwerte, blieben Dutzende unterschiedlichster Sprachen und Dialekte erhalten.

Hic sunt leones stand ratlos auf den mittelalterlichen Karten. Im Kaukasus war das nicht mal gelogen: Hier lebten, bis zu ihrer Ausrottung vor 2000 Jahren, kaspische Tiger und asiatische Löwen.

Kauri

Die Kaurimuschel trägt eigentlich einen falschen Namen. Denn sie stammt nicht von einem Muscheltier, sondern von einer Meeresschnecke. Ihr Gehäuse ist glatt und glänzt wie Porzellan, und als Marco Polo Ende des 13. Jahrhunderts erste Stücke aus China nach Europa brachte, verglich man diesen unbekannten Stoff mit der Kauri, und so kommt das Wort «Porzellan» tatsächlich vom italienischen porcellana, dem Wort für Kaurischnecke.

Die Kauri ist den Menschen seit jeher lieb und teuer. Vor Jahrtausenden schon wurde sie zu kostbaren Halsketten aufgereiht, als Schmuck auf Kleider genäht, und in Afrika, Asien, in der Südsee und in China war Kaurigeld lange eine anerkannte Leitwährung. Kaurigeld war sogenanntes «Primitivgeld», und es hatte drei Zwecke: Man konnte damit bezahlen, man konnte es beiseitelegen und sparen – und man konnte Güter einheitlich bewerten. Dazu waren Kauri selten, handlich, hatten eine einheitliche Form – und waren kaum zu fälschen.

Kaurimuscheln sind der Inbegriff des Exotischen, doch sie haben europäische Verwandte. Die rund einen Zentimeter grosse «trivia arctica» kommt im Mittelmeer, auf den Orkney-Inseln und in Norwegen vor. In Schottland heissen die kleinen bräunlich-weissen und quer gerippten Müschelchen groatie buckies, auf Deutsch «Schneckengeld». An Wochenenden suchen Einheimische stundenlang geduldig nach den hübschen Kauri. Die gelten als Glücksbringer – und nach einer strengen Woche ist die erholsame Suche am Strand, so sagen die Schotten, ganz einfach gut für die Seele.

Kiosk

Seinen ersten grossen Auftritt hat das Wort Kiosk im Jahr 1786 bei Johann Georg Krünitz. Krünitz ist Arzt, aber seine grosse Leidenschaft sind die riesige Privatbibliothek und das Schreiben. In seiner «Oeconomischen Encyclopädie» sammelt er alle Begriffe des Deutschen, darunter auch den noch kaum bekannten Kiosk. Ein Kiosk, schreibt Krünitz, ist

ein Gebäude bey den Türken, welches in etlichen nicht gar hohen Säulen besteht, die also gesetzt sind, daß sie einen gevierten Raum umgeben, der mit einem Zelt=Dache bedeckt (…) ist. Dergleichen Lust=Gebäude oder offener Säle bedienen sich die Türken in ihren Gärten und auf Anhöhen, die frische Luft und angenehme Aussicht zu genießen.

Das Wort كوشك kommt aus dem alten Persien, und zusammen mit der Gartenarchitektur war es im 13. Jahrhundert allmählich nach Westen gewandert, ins osmanische Reich, wo es sich im türkischen Köşk niederschlug. Mit der Zeit wurde es zum italienischen chiosco und schliesslich zum deutschen Kiosk, der Bezeichnung für jenes reich verzierte, aufregend exotische Gartenhaus. Pavillons im orientalischen Stil wurden immer beliebter – wer einen Park anlegte und etwas auf sich hielt, liess sich auch einen Gartenpavillon bauen. Kioske sprossen aus dem Boden, von Paris bis München, von Louis XV bis zum Bayernkönig Ludwig II.

Mit dem Untergang des osmanischen Reichs aber schwand auch das Interesse an den höfischen Kiosken. Das Wort dagegen blieb: Im 19. Jahrhundert wurde in Paris aus dem kiosque ein Verkaufsstand, der Blumen und Zeitungen anbot – erst im Park, dann auf dem Boulevard. Und heute ist der Kiosk an der Ecke aus dem Stadtbild nicht mehr wegzudenken.

Kritikalität, selbstorganisierte

Als der dänische Physiker Per Bak Kindern beim Spielen am Strand zusah, wurde er auf einmal stutzig. Die Kinder liessen Sand aus der Hand rieseln, so dass ein Häufchen entstand. «Am Anfang ist dieses flach», schrieb Bak später in seinem Buch «How Nature Works» von 1996, «und die einzelnen Sandkörner bleiben mehr oder weniger liegen, wo sie gelandet sind. Die Bewegung des Sandes lässt sich aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften beschreiben. Mit der Zeit aber werden die Hänge steiler, und es bilden sich kleine Lawinen. Und irgendwann wird eine Lawine so gewaltig sein, dass sie den Haufen als Ganzes erfasst.»

Bak beschloss, solche Sandhaufen am Computer zu simulieren, um so die durchschnittliche Grösse einer Lawine herauszufinden. Die ernüchternde Antwort, nach der Berechnung zahlloser virtueller Sandhaufen: Es gibt keine durchschnittliche Lawine. Die Eigenschaften von Systemen, die einen kritischen Punkt erreicht haben – ganz von selbst, ohne Zutun von aussen –, können sich urplötzlich dramatisch ändern. Wie gross dann eine nächste Lawine sein wird, lässt sich nicht mehr vorhersagen.

Diese Unberechenbarkeit nannte Bak «selbstorganisierte Kritikalität». Und die betrifft beileibe nicht nur Sandhaufen: Lawinen, Waldbrände, Erdbeben sind ebenfalls Systeme, die ganz von selbst kippen können. Das gilt schliesslich auch für die Wirtschaft und die Märkte: Der durchschnittliche Umfang eines Börsencrashs lässt sich mit Modellen nicht vorhersagen, und so kann eine Pleite, ein Konflikt, eine Epidemie das eine letzte Sandkorn sein, das den ganzen Haufen zum Einsturz bringt.