Idiotikon

Nein. Das Idiotikon ist kein Nachschlagewerk für Dorftrottel, sondern dessen genaues Gegenteil. Es ist ein historisches Wörterbuch, das in dereinst 17 Bänden mit 180 000 Stichwörtern die Schweizer Dialekte vom Mittelalter bis heute dokumentieren will. Und damit ist das Idiotikon eines der ehrgeizigsten Buchprojekte der Schweiz. 150 Jahre hat es schon auf dem Buckel: Am 15. Juni 1862 wurde der «Verein für ein schweizerdeutsches Wörterbuch» gegründet, dessen Initiant Fritz Staub ursprünglich ein vierbändiges Handbuch im Sinn hatte. Doch das Projekt wuchs und wuchs in typisch schweizerischer Langsamkeit. Eine kleine Redaktion, akribische Genauigkeit und ein Wust von Daten haben aus dem Idiotikon ein Generationenwerk gemacht. Noch immer werten die Mitarbeiter Zettel aus dem 19. Jahrhundert aus, auf denen Pfarrer und Lehrer eigentümliche Dialektbegriffe notiert hatten. Pfifolter und Gaggelaari, sirache und löie: Zehntausende von Stichwörtern werden geografisch und wortgeschichtlich ergründet. Nur in der Gegenwart ist das Idiotikon noch nicht so ganz angekommen. Ein Natel gibt es nicht, und selbst aalüte («anrufen») – die erste Telefonzentrale in Zürich wurde immerhin schon 1880 in Betrieb genommen – sucht man vergebens.

Im Januar 2012 ist das Idiotikon immerhin beim Buchstaben Z angelangt, und in zehn Jahren soll der letzte Band veröffentlicht sein. Darin blättern kann man jederzeit: idiotikon.ch ist die Onlineausgabe, deren Suche die Schwierigkeiten elegant umschifft, die sich aus den höchst unterschiedlichen Schreibweisen ergeben.

Von Tschoopelatz bis Gloschlibändel: Das Idiotikon ist ein sperriges Werk. Sein Name kommt nicht von Idiot, sondern vielmehr von Idiom, dem griechischen Wort für «sprachliche Eigentümlichkeit».

Katalog

Das Wort «Katalog» kommt vom griechischen kata légein, «hersagen» oder «aufzählen». Genau das ist es, was einst der Zettelkasten tat (und was heute Datenbanken tun). Der Katalog ist mindestens so alt wie die Bibliothek, und die wiederum geht auf das mouseîon der alten Griechen zurück, eine Mischung aus Tempel, Museum, Universität und Bibliothek. Auch hier müssen schon Kataloge bei der Suche nach bestimmten Schriftrollen geholfen haben, selbst wenn vom grössten dieser Museen, der legendären Bibliothek von Alexandria, kein Fitzelchen übriggeblieben ist.

Ähnlich ging es einer der grössten Bibliotheken der Renaissance, jener des Hernando Colón, eines unehelichen Sohnes von Christoph Kolumbus. Colón hatte den Ehrgeiz, die Leistungen seines berühmten Vaters noch zu übertreffen – nicht mit Expeditionen, sondern mit der grössten Universalbibliothek seiner Zeit. 15 000 Werke soll die Sammlung einmal umfasst haben; Rechtsstreitigkeiten liessen sie nach Colóns Tod 1539 auf weniger als die Hälfte schrumpfen. Sie kann als «Biblioteca Colombina» in Sevilla heute noch konsultiert werden.

Colón und seine eigens dafür angestellten Bibliothekare waren ehrgeizig und ungemein fähig. Vor wenigen Monaten erst wurde in Dänemark ein Buch entdeckt mit dem Titel «Libro de los epitomes» – Colóns 2000 Seiten starker, säuberlich von Hand geschriebener Bibliothekskatalog, der jedes einzelne der Bücher verzeichnet, einschliesslich einer präzisen Zusammenfassung des Inhalts. Und weil so viele Bände verschwunden sind, enthält Colóns gross angelegter Katalog heute die letzten Spuren von Wissen, das ohne ihn gänzlich verloren wäre.

Knigge, Adolph Freiherr

Der Knigge – das sind eigentlich zwei. Der eine ist der notorische Besserwisser, den Kinder hassen, wenn sie sich bei Tisch benehmen sollen, als tafelten sie mit Königen. Und der andere heisst Adolph. Dieser Adolph Freiherr Knigge ist ein Aufklärer und Autor eines Buchs mit dem Titel «Über den Umgang mit Menschen». Mit diesem Buch, so schreibt Knigge im Jahr 1788,

will ich (…) einige Resultate aus den Erfahrungen ziehn, die ich gesammelt habe, während (…) ich mich unter Menschen aller Arten und Stände umhertreiben lassen und oft in der Stille beobachtet habe.

Mit Beobachten kennt sich Knigge aus. Er ist Verwaltungsbeamter an Fürstenhöfen, Mitglied in Orden und Geheimlogen, ein Anhänger der französischen Revolution – und steht daher selbst unter Beobachtung durch die Polizei. Für die Obrigkeit, die er als «Hofschranzen» beschimpft, hat Knigge nichts übrig – obwohl er selbst ein Adliger ist. Weil er aber nichts als Schulden geerbt hat, ist er gezwungen, sich mit dem «Hofgeschmeisse» abzugeben. Was Knigge vermitteln will, ist Höflichkeit ohne Speichelleckerei, Selbstbewusstsein ohne Überheblichkeit – mit einem Wort: nicht Regeln, sondern Werte:

Edler Anstand ist nicht Steifigkeit, verbindliche Höflichkeit und Aufmerksamkeit nicht Bocksbeutel, Grazie nicht Zwang, und echtes Talent, wahre Geschicklichkeit nicht Pedanterie.

Daher:

Sei, was Du bist, immer ganz und immer derselbe.

Heute gibt’s den Knigge für Kinder, für Kleider und Karriere, fürs Business und für Dummies. Ob all den Ratgebern dreht sich der Freiherr vermutlich im Grab um. Hätte er gewusst, dass sein Buch so gründlich missverstanden wird, er hätte es womöglich gar nie geschrieben.

Kollege

Die römische Republik kannte ein eisernes Prinzip: Macht, in den Händen eines einzelnen, kann allzu leicht missbraucht werden. Darum, so besagten die Regeln, durfte die Macht, die eines Konsuls etwa, des höchsten politischen Amtes, immer nur ein Jahr lang ausgeübt und musste geteilt werden – unter zwei gleichberechtigten collegae. Das Wort setzt sich zusammen aus dem lateinischen cum, «mit», und lex, «Gesetz» – ein Kollege war also der, der demselben Gesetz unterstand wie man selbst.

Collegae waren im alten Rom demnach alles andere als Kollegen, und oft genug trauten sie einander nicht über den Weg. Der Anwalt und Politiker Marcus Tullius Cicero etwa, im Jahr 63 v. Chr. zum Konsul gewählt, hatte als collega den bis ins Mark korrupten Gaius Antonius Hybrida, und was die beiden miteinander verband, war vor allem eine erbitterte Feindschaft.

In der Form des «Kollegiums» fand das Wort mit dem Aufkommen der ersten Universitäten den Weg in die Akademie: Das Kollegium war die gemeinschaftlich aufgebaute Körperschaft von Dozenten; ihr anzugehören, war das sogenannte «Kollegiat», der Mitprofessor folgerichtig der «Kollege». Als solche blieben die nicht lange unter sich, denn schon bald redeten sich auch die Studenten untereinander (durchaus ironisch) mit «Herr Kollega» an.

Sportler, Lehrerinnen, Müllmänner, Ärztinnen, Anwälte: Alle sind sie heute «Kollegen», und namentlich in der Schweiz, in Österreich und Süddeutschland ist der Kollege heute gleichbedeutend mit dem Freund. Dass er einst sein genaues Gegenteil war, ist längst vergessen.

Kultur

Je höher die Kultur, desto reicher die Sprache,

schrieb Anton Tschechow im Jahr 1892. So gesehen, ist die Sprache ausgesprochen neureich. Denn Kultur ist, zumindest in seiner heutigen Bedeutung, kein altes Wort. Seit dem 17. Jahrhundert steht das lateinische Substantiv cultura für Landbau, aber auch für Pflege – Pflege des Körpers, des Geistes. Hochkultur und Agrikultur: Bis heute steht das Wort gleichberechtigt für Landwirtschaft und für die Pflege geistiger Güter, so dass Geisteskultur streng genommen ein Pleonasmus ist, genau wir der berühmte weisse Schimmel aus der Primarschule.

Lateinisch cultura geht auf das Verb colere zurück, das bebauen, bewohnen, pflegen, oder ehren heisst. Dieser Bedeutung haftet etwas Konservatives, etwas Bewahrendes an. Aber: Auch das Wort Kultur ist durchaus modeanfällig. Die Eigenschaft «kulturell» nämlich wurde erst im 20. Jahrhundert und mit der modischen, elegant-französischen Endsilbe gebildet. Und das deutsche Kultusministerium verdankt seinen klingenden Namen dem modischen, gelehrt-lateinischen cultus, wörtlich bebaut, bewohnt. Das Kultusministerium ist aber weder für Landwirtschaft noch für Wohnungsbau zuständig, sondern vielmehr für die Bildung.

Kultur wird oft als Gegenteil von Natur verstanden und meint damit alles, was Menschen erdacht, gelernt und geleistet haben, von Kunst bis Knigge, sozusagen. Sprachlich hat die Kultur hat aber auch ihre Schattenseiten: Dass die mit dem Wort Kultur verwandte Kolonie nicht die Sprache reich macht, wie Tschechow sagt, zeigt ein Blick in die Geschichte. An Kolonien bereichert haben sich ausgerechnet Grossmächte, die damit ihre eigene humanistische Kultur Lügen straften.