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Diderot-Effekt

Denis Diderot, der Pariser Aufklärer und Philosoph, war gelegentlich bei Marie Thérèse Geoffrin zu Gast, die für ihre literarischen Salons bekannt war, aber eben auch für ihre zudringlichen Gefälligkeiten. Diderot hatte Madame Geoffrin einen Gefallen getan, und sie schenkte ihm dafür einen neuen scharlachroten Hausrock. Das war fatal:

Mein alter Rock passte mir so gut, dass ich mich ausnahm wie von Künstlerhand gemalt,

schrieb Diderot 1768 in einem Essay:

Der neue, steif und förmlich, macht mich zur Schneiderpuppe. Ich sehe aus wie ein reicher Tagedieb.

Das Geschenk setzte einen Teufelskreis in Gang. Die schäbigen Möbel hatten wunderbar zum verschlissenen Rock gepasst. Doch nun verspürte Diderot das zwanghafte Bedürfnis, alte Möbel, die nicht mehr passten, durch bessere zu ersetzen – den Rohrstuhl durch einen Maroquinsessel, das schäbige Pult durch einen eleganten Sekretär, das schlichte Bücherbrett durch einen kostbaren Intarsienschrank.

Der kanadische Anthropologe Grant McCracken nannte dieses psychologische Phänomen 1990 den «Diderot-Effekt»: Der Kauf eines neuen Gegenstandes stört das zuvor harmonische Gesamtbild und zwingt zur Korrektur. Ein passendes Folgeprodukt wird angeschafft, das wieder zu stören beginnt und eine weitere Korrektur verlangt – eine Kettenreaktion des Konsums, die sich Marketing und Werbung mit immer noch begehrenswerteren Produkten zunutze machen und der man sich nur schwer entziehen kann. Es sei denn, man kommt wie Diderot zum Schluss:

Bewahrt eure alten Freunde. Mein Beispiel soll euch lehren: Die Armut hat ihre Freiheiten, der Reichtum seine Zwänge.

Haselnuss

1942 tobte rund um die Schweiz der Zweite Weltkrieg, und der Schokoladenhersteller Camille Bloch bekam ein Problem: Kakao wurde knapp und teuer. Doch Not macht erfinderisch, und so liess Bloch dunkle Schokolade in flache Formen giessen und mit ganzen Haselnüssen belegen, deren Import aus der faktisch neutralen Türkei problemlos möglich war. Dazu kam eine weiche Masse, die ebenfalls zur Hauptsache aus gemahlenen Nüssen bestand.

Dieser Riegel namens «Ragusa» ist eine Kalorienbombe, und das liegt nicht nur an der Schokolade. Eine einzige getrocknete Haselnuss enthält – bei einem durchschnittlichen Gewicht von 1,2 Gramm – rund 8 Kilokalorien und speichert damit gleichviel Energie wie 10 Gramm Kartoffeln.

Nüsse können zwar Allergien auslösen, aber sie sind sehr gesund. Eine 2015 erschienene Studie der Universität Maastricht legt nahe, dass schon 10 Gramm Nüsse pro Tag das Risiko senken, in den nächsten zehn Jahren zu sterben. Wer regelmässig Nüsse isst, leidet statistisch gesehen weniger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs.

Zu allen Zeiten haben die Menschen Haselnüsse gesammelt, getrocknet, gelagert und gegessen – vor 230’000 Jahren der «homo erectus», in der Mittelsteinzeit die ersten Bauern, und selbst in einem Kochbuch der alten Römer, verfasst vom Feinschmecker Marcus Gavius Apicius, findet sich eine Liste von Lebensmitteln, die in keiner römischen Küche fehlen durften, darunter – neben Walnüssen, Pinienkernen und Mandeln – natürlich Haselnüsse.

Sacco di Roma

Atemlos hasteten die 42 Schweizergardisten und Papst Clemens VII durch den «Passetto di Borgo», den Gang, der als gewöhnliche Mauer getarnt ist und der vom Vatikan zur Engelsburg führt. Der Ausbruch gelang, und der Papst erreichte die Festung unversehrt.

Der «Sacco di Roma», die Plünderung Roms an diesem 6. Mai 1527, ging als beispielloses Kriegsverbrechen in die Geschichte ein. Der hemmungslose Raubzug der grösstenteils reformierten Söldnertruppen Karls V, des gewählten, aber noch ungekrönten Kaisers des Heiligen Römischen Reichs, geriet gänzlich ausser Kontrolle. Führerlos und ausser Rand und Band zogen die Landsknechte brandschatzend, vergewaltigend und mordend durch die Strassen. Kirchen und Paläste wurden ausgeraubt, Adligen enorme Lösegeldsummen abgepresst, Bürgern unter Folter alles abgenommen, was von Wert war. Alle Schweizergardisten, mit Ausnahme der 42 päpstlichen Fluchthelfer, wurden auf dem Petersplatz getötet.

Die Zahl der zivilen Opfer ging in die Zehntausende; über 90 Prozent der Kunstschätze Roms wurden gestohlen oder zerstört. Bis heute gedenkt die Schweizergarde der Gräuel – wenn sie jeweils am 6. Mai ihre neuen Rekruten vereidigt.

Eine letzte Spur dieses schwarzen Tages kam erst Jahrhunderte später an den Tag. Auf dem Fresko «Disputa del Sacramento», einem berühmten Gemälde des Renaissancemalers Raffael im Vatikan, entdeckten Restauratoren 1999 den Namen «Luther», von hasserfüllten Söldnern eingeritzt, als wohl grösste denkbare Schmähung der katholischen Kirche.

Heinrich, süsser

Heinrich Wilhelm Kurz, gelernter Sattler aus dem hessischen Nidderau, war ein leidenschaftlicher Erfinder. Von ihm stammen Skizzen für eine Waschmaschine, einen Pfannkuchenwender, Stehaufmännchen, eine Auflaufbremse, eine Einzelradaufhängung für Fuhrwerke und einen Toilettenaufsatz für Kleinkinder. Und für einen Gegenstand, den wir noch heute täglich benutzen: den Zuckerstreuer.

Davor nämlich kam der Zucker aus der Dose. Jeder bediente sich mit seinem Löffel, die Menge war mehr oder weniger zufällig, und ausserdem konnte man nicht sehen, ob die Dose bald leer war. Kurzens Zuckerstreuer löste gleich eine ganze Reihe von Problemen. Er war aus Glas und mit einem Schraubdeckel hygienisch verschlossen. Durch den Deckel lief ein Rohr, das beim Kippen immer genau dieselbe Zuckermenge aufnahm und durch das abgeschrägte Ende abgab.

Bürokratie war seine Sache nicht, und Kurz starb 1934 als armer Mann. Seine Einfälle aber hatte er säuberlich in einem Büchlein notiert, das Jahre später seinem Enkel Theodor Jacob in die Hände fiel. Der meldete die Erfindung seines Grossvaters 1953 zum Patent an; ein Jahr später begann die Produktion.

Blieb die Sache mit dem Namen. Die Patentschrift sprach von einem «Portionierer für granuliertes Streugut». Weil das viel zu sperrig war, und um seinem erfinderischen Grossvater Heinrich Kurz die Ehre zu erweisen, wurde der Zuckerstreuer auf den Namen getauft, den man in Deutschland noch heute kennt: «Süsser Heinrich».

Hungerstein

«Wenn du mich siehst, dann weine», steht auf dem mächtigen Basaltblock auf dem Grund der Elbe in der tschechischen Stadt Děčín. In normalen Zeiten liegt der Stein metertief unter Wasser. Doch sinkt der Pegel stark, taucht die eingemeisselte Schrift auf. Trockenheit bedeutete zu allen Zeiten Hungersnot, weil die Ernte verdorrte und Versorgungsschiffe bei Niedrigwasser nicht fahren konnten. Die bei Dürre auftauchenden Steine heissen deshalb «Hungersteine», und sie tragen nicht nur Warnungen, sondern auch den Pegelstand und die Jahreszahl der Dürrejahre. Die ältesten Steine stammen aus dem 15. Jahrhundert und zählen damit zu den ältesten hydrologischen Denkmälern; neuere Steine dagegen wurden noch im 19. und 20. Jahrhundert behauen.

Hungersteine gibt es in vielen Flüssen, der Elbe etwa, der Mosel, der Weser, dem Neckar und dem Rhein. 1923 schrieb der deutsche Reiseschriftsteller Alfons Paquet über Hungersteine bei Bingen, «die jahrzehntelang im Wasser verborgen sind und bei ihrem Auftauchen Zeichen von Menschenhand verraten», und 1898 berichtete die Linzer Tages-Post über Steine bei Schaffhausen, «die nur sehr selten sichtbar würden, und in die man jedesmal, wenn sie sich zeigten, das Datum ihres Erscheinens einmeissle».

Wenn sie sichtbar sind, gilt den Hungersteinen grosse Aufmerksamkeit. Bei Dürre wurde der berühmte Stein bei Děčín gar zum Wallfahrtsort. Das rief 1938 einen findigen Wasserpumpenfabrikanten auf den Plan, der unterhalb der Hungerwarnung den Slogan anbringen liess: «Weine nicht, wenn es trocken ist: Spritze das Feld!»