Noten, tironische

«Fräulein, zum Diktat!» Jahrzehntelang machte das Kommando klar, wer hier der Chef ist. Zumindest vorgeblich. Denn ging’s erst einmal zur Sache, dann vollbrachte die Sekretärin mit Stift und Stenoblock ein Wunder: Die geschraubten Formulierungen fanden ihren Weg genauso schnell aufs Papier, wie der Direktor sie formulieren konnte.

Als Erfinder der Stenografie gilt der englische Arzt und Pfarrer Timothy Bright, der mit seinem Werk «Characterie» von 1588 den Grundstein zu allen modernen Kurzschriftsystemen legte. Tatsächlich ist das Wunder der Fräuleins dieser Welt um viele Jahrhunderte älter und heisst «tironische Noten».

Marcus Tullius Tiro war der Privatsekretär und Vertraute Ciceros, eines der bedeutendsten Politiker und Redner des alten Rom. Tiro war zwar ein Sklave, doch beileibe kein gewöhnlicher. Er schaffte es, mittels 4000 selbst ersonnener Kurzzeichen Reden im Senat und vor Gericht in Echtzeit zu notieren. Anschliessend erstellte er ein wortgetreues Protokoll – eine Revolution in einer Stadt, die auf Wachstafeln kritzelte und die zu sagen pflegte: Verba volant, scripta manent – «Worte sind flüchtig, allein Geschriebenes bleibt». Viele Reden Ciceros, darunter auch die flammende Anklage gegen den Verschwörer Catilina vor dem versammelten Senat, wurden auf diese Weise protokolliert und blieben so erhalten.

Eine dieser tironischen Noten, ein unscheinbares Winkelchen nach rechts, hat bis heute überlebt – im deutschen Fraktursatz als «⁊c.» (Abkürzung für «et cetera») und als «⁊» in Irland, wie beim Sklaven Tiro im 1. Jahrhundert v. Chr., als Zeichen für «und».

Nylon

Wörter erzählen Geschichten: Mauer zum Beispiel kommt vom lateinischen murus, Wand dagegen von winden, weil die Germanen ihre Häuser nicht mauerten, sondern aus Zweigen flochten. Je älter das Wort, desto dunkler seine Herkunft, und einige Wörter sind so alt, dass sich ihre Geschichte nicht mehr nachvollziehen lässt.

Nylon
Nylon
Aber es gibt auch ganz junge Wörter, die den Sprachforschern Kopfzerbrechen bereiten. Ein solches Wort ist Nylon – die Kunstfaser, die der Chemiker Wallace Carrothers in den frühen dreissiger Jahren entdeckte. Carrothers arbeitete beim amerikanischen Chemiekonzern DuPont und forschte bereits seit 1930 an Polymeren herum, an chemischen Verbindungen, die aus langen Molekülketten bestehen, und die sich zu langen, zähen Fasern ziehen lassen. Ihr Schwachpunkt: sie schmolzen bereits bei niedrigen Temperaturen. 1935 gelang Carrothers der Durchbruch: Seine neue Faser war stark und hitzebeständig, und rasch sollte sie die Welt der Damenstrümpfe, der Fallschirme und der Angelschnüre revolutionieren.

Nylon lässt sich chemisch exakt beschreiben. Nur das Wort gibt Rätsel auf. Die landläufige Meinung, Nylon sei ein Abkürzungswort für den gegen Japan gerichteten Ausruf now you lousy old nipponese, ist ebenso falsch wie die Annahme, das Wort komme von New York und London, wo Nylon produziert wurde. Zwar weiss man, dass DuPont seinen neuen Stoff ursprünglich NoRun taufen wollte, auf deutsch soviel wie «keine Laufmasche». Aus Furcht vor dem Richter (auch damals konnte eine Laufmasche bereits zu Klagen führen) liess man diesen etwas zu viel versprechenden Namen allerdings wieder fallen.

Woher der Name Nylon wirklich kommt, weiss niemand mehr genau. Gewusst hätte es vermutlich der Chemiker Carrothers. Der aber nahm sich, schwer depressiv, zwei Jahre nach seiner grossen Erfindung das Leben.

Obelisk

Asterix‘ bester Freund heisst Obelix. Und das ist pure Ironie: Obelix kommt von Obelisk, jener steinernen Spitzsäule der alten Ägypter. Was Obelix dagegen aus seinem Steinbruch haut, gleicht viel eher den rohen Menhiren der Bretagne, und die Korpulenz des Steinhauers hat mit den schlanken Obelisken auch herzlich wenig zu tun.

Ein Obelisk wurde von Hunderten von Arbeitern mit Steinkugeln aus dem kostbaren Rosengranit der Steinbrüche von Assuan geschlagen. In der Vorstellungswelt der alten Ägypter ist er eine Verbindung zwischen Mensch und den Göttern. Die ältesten Obelisken stammen aus der Zeit um 2300 vor Christus, als der altägyptische Pharao Teti II zwei damals noch glatte, schmucklose Granitsäulen vor dem Tempel des Sonnengottes Re aufstellen liess. Nur die Spitze war vergoldet und reflektierte das göttliche Sonnenlicht. Später erhielten die immer paarweise gesetzten Obelisken, deren Gewicht ohne weiteres 200 bis 500 Tonnen betragen konnte, aufwändige, senkrecht verlaufende Hieroglyphenbänder.

Die imposanten Säulen waren seit jeher beliebte Souvenirs der jeweiligen Machthaber. Ägyptische Obelisken stehen in Rom, London, New York. Vor dem Tempel Ramses II in Luxor steht nur noch eine einsame Spitzsäule, ihr Gegenstück, offiziell ein Geschenk Ägyptens, liess der französische König Louis Philippe an der Place de la Concorde in Paris aufstellen.

Nur ein Obelisk, der grösste aller Zeiten, liess sich nie von der Stelle bewegen: Er wiegt bis zu 1200 Tonnen, ist 42 Meter lang und liegt noch immer im Steinbruch von Assuan. Als sich herausstellte, dass ein Riss im Stein die Säule würde brechen lassen, wurde er, erst halb vollendet, aufgegeben.

Odeon

Das odeion war ein Kulturhaus bei den alten Griechen. Es hatte einen halbkreisförmigen Grundriss, aber im Gegensatz etwa zum offenen Theater hatte ein ᾠδεῖον ein Dach und war für Konzerte, Rezitale, Vorträge oder für Ratsversammlungen gedacht – odeion kommt denn auch (wie die deutsche «Ode») vom griechischen Wort für «Lied». Das älteste bekannte odeion stammt von einem Architekten namens Theodorus und wurde rund 600 Jahre v. Chr. am Markt von Sparta gebaut. Später entstanden Odeen in Athen und in allen anderen griechischen Stadtstaaten; im 1. Jahrhundert n. Chr. erhielt unter Kaiser Domitian dann auch Rom ein odeum, draussen auf dem Marsfeld und für insgesamt 5000 Zuschauer. Das odeum des Domitian galt lange Zeit als eine der prestigeträchtigsten Bauten der ganzen Stadt.

«Odeon» klingt nach Bildung und Geschichte, und als in der Neuzeit grosse Säle für Musik, Theater und Tanz entstanden, das «Odeon» in München, das in Wien oder das «Théâtre National de l’Odéon» in Paris etwa, besann man sich auf den alten griechischen Namen. Im 20. Jahrhundert dann, als der noch junge Film um einen Platz in der Kultur rang, wurden die ersten Vorführsäle in den USA nickelodeon genannt, weil es da für einen nickel, eine Fünf-Cent-Münze, mehrere kurze Stummfilme zu sehen gab, die von Klavier oder Akkordeon begleitet wurden. Nach jedem Film musste die Filmrolle gewechselt werden, und so gab es in manchen Nickelodeons musikalische Pausenstücke, bei denen das Publikum mit song slides, aufwändig auf Glas gemalten Songtexten, zum Mitsingen aufgefordert wurde – eine Art Massen-Karaoke, an dem die Erfinder des antiken odeions ihre helle Freude gehabt hätten.

Okay

In Ordnung, das war gestern. Heute heisst das okay. Ob es um den Preis eines Massanzugs geht oder die moralische Bewertung eines Seitensprungs: alles ist okay. Was uns da so selbstverständlich über die Lippen kommt, ist ein Lieblingskind der Sprachgeschichte.

Okay
Okay
«Ok» ruft abenteuerlichste Spekulationen hervor, und einige davon klingen ganz plausibel: Der deutsche Sprachrat vermutet den Ursprung auf deutschen Druckfahnen mit dem Vermerk «ohne Korrektur», o.k. Die deutsche Bundeswehr dagegen glaubt an die Abkürzung für «Ober-Kommando»; die american army an zero killed, null k, keine Opfer. Sprachforscher wiederum vermuten den Ursprung im Dialekt der Choctaw-Indianer, wo das Wort okeh soviel heisst wie «Ja, in Ordnung». Und schliesslich gibt’s da noch die Boxer und Humoristen, die behaupten, ok sei schlicht das Gegenteil von k.o.

Die plausibelste Herleitung stammt vom im Jahr 2002 verstorbenen amerikanischen Sprachwissenschaftler Allan Walker Read. Seine Geschichte geht so: In den 1830-er und 1840-er Jahren gab es an der amerikanischen Ostküste die beliebte Mode, alltägliche Ausdrücke mit möglichst unsinnigen Abkürzungen zu versehen. Da stand etwa kg für no go, ow stand für all right – ganz nach dem Motto: Je falscher, desto besser.

Ok, soviel fand Read heraus, stammt von einem Kolumnisten, der dieser Abkürzungsmasche erlag und am 23. März 1829 in einer Satire der Boston Morning Post ok schrieb – als spassige Abkürzung für all correct. All mit o, correct mit k: Das war gleich doppelt falsch – und in den Augen der Spassvögel also auch doppelt so gut.

Dass hinter ok also viel Falsches steckt, das wissen wir heute nicht mehr – oder höchstens dann, wenn wir hören, ein sündhaft teurer Massanzug oder ein kleiner Seitensprung seien «okay».