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Strick-Code

Ein Strickmuster ist binär: Im Grundsatz gibt es genau zwei Möglichkeiten, Muster zu erzeugen, rechte Maschen und linke. Rechts gestrickte Maschen sehen aus wie kleine Vs, links gestrickte dagegen wie Quer- oder Trennstriche. V oder Strich, Null oder eins: Wie das Morsealphabet mit seinen kurzen und langen Signalen lässt sich auch das Stricken nutzen, um Buchstaben und Botschaften zu codieren.

Im ersten Weltkrieg warb die französische Spionin Louise de Bettignies unter ihrem Tarnnamen Alice Dubois Strickerinnen an. Die perfekt zweisprachige Bettignies arbeitete von Lille aus für den britischen Geheimdienst. Sie rekrutierte Frauen, die in der Nähe von Bahnhöfen oder Gleisanlagen lebten, und liess sie minutiös beobachten: Wie viele Züge der Deutschen kamen an, wie viele fuhren ab? Was hatten sie geladen? Waren es Waggons mit Soldaten oder Güterzüge mit Geschützen und Panzern? Stricken galt dabei als völlig unverdächtig, also sassen die Frauen tagsüber am Fenster und strickten ihre Informationen, statt sie auf Papier zu schreiben, in Form eines eigens dafür entwickelten Codes ganz einfach in ihre Schals. Eine Fallmasche stand für Truppentransporte, eine linke für Artilleriezüge und so weiter. Am Ende wurden die Stricksachen in die Geheimdienstzentrale geschmuggelt, und die Muster verrieten den Agenten des MI6 die Truppenbewegungen des Feindes.

Stricken als Spionage: Mit ihren eigenen Mitteln wollten sich die Briten später auf keinen Fall selbst schlagen lassen. Im Zweiten Weltkrieg war in Grossbritannien das Verschicken von Strickanleitungen verboten.

Erdstall

Ein Erdstall ist ein Tunnelsystem meist unter einem Bauernhof, in der Nähe einer Kirche oder eines Friedhofs. Mit Ställen für Vieh hat der Erdstall nichts zu tun: Das Wort «Stall» kommt hier vielmehr vom bergmännischen «Stollen». Tatsächlich besteht ein Erdstall aus bis zu 50 Meter langen Gängen mit einem engen Durchschlupf, mit Kammern, Stufen, Bänken und Nischen. Allein in Bayern gibt es über 700 davon, doch auch in Österreich, Tschechien, der Slowakei und Ungarn, seltener auch in Frankreich, Spanien und Irland wurden Erdställe entdeckt. Alle wurden sie fast zeitgleich Ende des 13. Jahrhunderts aufgegeben.

Von wem sie erbaut wurden, wann und zu welchem Zweck, liegt dagegen völlig im Dunkeln. Die Archäologie weiss vor allem, was ein Erdstall nicht ist: Für ein Lager sind Erdställe zu eng und zu niedrig, und ausserdem wurden in ihnen kaum Spuren menschlicher Nutzung gefunden. Auch ein Fluchtort waren sie kaum, weil sie nur einen Eingang haben und Flüchtende im Fall einer Entdeckung in der Falle gesessen hätten. Auch als Notunterkunft kommen sie nicht in Frage, weil es in Erdställen kalt ist und ein Feuer den Sauerstoff aufgebraucht hätte. Eine Theorie besagt, dass Erdställe sogenannte «Leergräber» waren, symbolische Gräber für weit entfernte Tote, Soldaten etwa, die fern der Heimat gefallen waren. Andere Forscher deuten Erdställe als eine Art Wartesaal für die Seelen Verstorbener; dafür spricht, dass die Anlagen genau zu der Zeit aufgegeben wurden, als die Kirche damit begann, die Lehre vom Fegefeuer zu verbreiten.

Solange aber keine hieb- und stichfesten Belege gefunden werden, bleiben Erdställe, was sie sind: ein grosses Rätsel.

Steckenpferd

Ein Holzstiel, am einen Ende ein hölzerner Pferdekopf mit zwei Griffen, und fertig ist das Spielzeugpferd. Schon in der Antike ritten Kinder auf Steckenpferden umher. Im Mittelalter sollte das Steckenpferd den Buben ritterliche Ideale vermitteln, und als Motiv ziert es sogar Familienwappen. Weil es auch in alten, heidnischen Bräuchen vorkam, gab es sogar Versuche der Kirche, das Steckenpferd zu verbieten.

In Osnabrück spielt das Steckenpferd eine ganz besondere Rolle. Auf der Treppe des Rathauses wurde 1648 der Westfälische Friede verkündet – ein Friede, der dem dreissigjährigen Krieg mit seinen Millionen von Toten ein Ende setzte. Jedes Jahr am 25. Oktober erinnern die Kinder der Stadt an diesen Friedensschluss, indem sie

Wir Reiter zieh’n durch Osnabrück!

singen und mit ihren Steckenpferden über die Rathaustreppe reiten. Heute ist das Dressurreiten und Springen auf Steckenpferden sogar eine regelrechte Trendsportart: In der finnischen Stadt Seinäjoki werden jedes Jahr Meisterschaften ausgetragen, die Hunderte von Reiterinnen und Tausende Besucher anziehen.

Auf Englisch heisst das Steckenpferd hobby-horse, vom Wort hobby, das im 15. Jh. «kleines Pferd» bedeutete und ebenso für das Kinderspielzeug stand. Die Begeisterung der Kinder übertrug sich auch auf das Wort, so dass hobby-horse im übertragenen Sinn auch «Liebhaberei» bedeuten konnte. To ride one’s hobby-horse im Sinne von «einer Lieblingsbeschäftigung nachgehen» wurde mit der Zeit zum modernen «Hobby», und umgekehrt steht auch heute noch das «Steckenpferd» für das, was wir am allerliebsten tun.

Khipu

Eine Schrift aus lauter Knoten: Die alten Inkas knüpften Botschaften in Schnüre aus Tierhaar, die sogenannten «Khipus». «Khipu» heisst wörtlich «Knoten», und ein «Khipu» sieht aus wie ein fächerförmiger Halsschmuck. Es besteht aus einer Hauptschnur, von der Dutzende von Nebenschnüren herabhängen, auf denen feine Knoten sitzen.

Bis heute wurden rund 800 «Khipus» gefunden, viele davon sind hervorragend erhalten. Die ältesten stammen von südamerikanischen Völkern des 7. Jh. n. Chr.; die meisten von den Inka, die vom 12. bis ins 16. Jh. ein Gebiet beherrschten, das von Equador über Peru und Bolivien bis nach Chile und Argentinien reichte.

Die Knoten waren keine Schrift für jedermann: Nur besonders ausgebildete Beamte waren in der Lage, sie zu knüpfen und zu lesen. «Khipus» waren denn auch eine Art Akten: 2016 wurde in Bolivien ein Lagerhaus aus dem 16. Jh. entdeckt, zusammen mit 29 Khipus, deren Knoten Zahlen bedeuten, die die gelagerte Menge an Erdnüssen, Chilis, Bohnen oder Mais festhielten. An einigen Stellen waren die Knoten aufgelöst, um bei Änderungen wieder neu geknüpft zu werden. Andere Khipus halten Steuern und geschuldete Arbeitsleistungen fest; ein ganz besonderes Khipu ist ein Kalender des Inkajahres 1532/33, mit 12 Mondmonaten plus einer Schnur mit 10 eingeschobenen Schalttagen.

Noch aufwändigere Khipus dienten dem Schriftverkehr: Ihre unterschiedlich gezwirnten und gefärbten Schnüre mit noch komplexeren Knoten bilden eine Silbenschrift für Briefe und Erzählungen. Diese Schrift allerdings lässt sich, im Gegensatz zu den Zahlenknoten, bis heute nicht entziffern.

Bezoar

Ein Bezoar ist ein kugelförmiger oder länglicher, grauer, brauner oder schwarzer und vor allem seltener Stein. Nüchtern betrachtet, ist er eine ausgesprochen unappetitliche Sache: Er entsteht im Magen eines Tieres, gelegentlich auch des Menschen, wenn sich Unverdauliches wie Haar oder Fasern verklumpt. Bei Wiederkäuern, deren Mageninhalt immer wieder umgewälzt wird, kann sich ein solcher Klumpen im Verdauungstrakt einnisten und mit der Zeit versteinern – wird das Tier geschlachtet, kommen die harten, glänzenden Kugeln zum Vorschein. So ansehnlich sie auch sein mögen: In der Tiermedizin gilt ein Bezoar als sogenannter pathologischer Gastrolith, auf Deutsch ein Magenstein.

Und doch war ein Bezoar begehrt und seinem Besitzer lieb und teuer: Besonders ansehnliche Exemplare, die vor allem von Gämsen und Bezoarziegen stammten, wurden nicht selten in Gold gefasst und als Schmuckstück um den Hals getragen. Denn Bezoaren sagte man seit der Antike einen Schutz vor Vergiftungen nach – das Wort padzahr stammt aus dem Persischen und bedeutet wörtlich «gegen Gift». Besonders europäische Herrscher, die sich vor Giftanschlägen fürchteten, hielten ihre kostbar verzierten Bezoare in Ehren – obwohl Ambroise Paré, der Leibarzt des französischen Königs, schon 1565 nachgewiesen hatte, dass der Glaube an die heilenden Steine Humbug war. Das Experiment: Ein Koch hatte Silberbesteck gestohlen und war zum Tode verurteilt worden. Ihm wurde ein Gift verabreicht und danach ein Pulver aus zermahlenem Bezoar; sieben Stunden später war der Koch tot. So findet man Bezoare heute nur noch in Pharmazie- und Medizinmuseen – und manchmal in den Schatzkammern des europäischen Hochadels.