Archiv für das Jahr: 2014

X

X ist der geheimnisvollste aller Buchstaben: Er steht für einen Wert, den man nicht kennt. X ist die grosse Unbekannte, und die Suche nach ihrem Ursprung ist eine Reise durch die Jahrhunderte.

Ums Jahr 825 schrieb der persische Gelehrte Mohammed al-Chwarizmi ein Werk über das Rechnen mit den indischen Ziffern von 0 bis 9. Das Büchlein hiess al-Jebr, woraus unser Wort «Algebra» entstanden ist. Darin führte al-Chwarizmi vor, wie sich Gleichungen mit Unbekannten elegant lösen lassen. Alle Werte wurden nicht mit Symbolen, sondern mit Worten ausgedrückt; die unbekannte Grösse nannte al-Chwarizmi stets ‏شيء [∫a’i], was auf Arabisch ganz einfach «Sache» bedeutet.

Das indisch-arabische Zahlensystem war dem der alten Römer, das in Europa noch immer in Gebrauch war, weit überlegen und fand seinen Weg nach Spanien. Hier stiessen die Übersetzer auf ein Problem: Im Hochspanischen kam der Laut [∫] nicht vor, und so griffen die Schreiber der Not gehorchend zum griechischen Buchstaben Chi, der äusserlich unserem X ziemlich ähnlich sieht. Um auch ausserhalb Spaniens verstanden zu werden, musste die arabisch-spanische Algebra ein weiteres Mal übersetzt werden: diesmal ins Lateinische, die internationale Sprache der Wissenschaft. Und weil das griechische Chi im Lateinischen keine Entsprechung hat, schrieb man es fortan als X.

«Project X», «The X-Files»: Wenn wir also zum x-ten Mal einen Film sehen, der ein X im Titel trägt, dann wissen wir jetzt, warum: weil man in Spanien das [∫] nicht aussprechen kann.

Lifehack

Der Hacker ist ein Finsterling: Er bricht in Datenbanken ein und klaut Informationen, die er dann an den Meistbietenden verschachert. Aber kein Klischee ohne Parodie, und die heisst life hacking. Der Begriff wurde in den Achtzigerjahren in der Hackerszene geprägt, aber er hat nichts mit Computer zu tun, sondern mit spielerischen Wegen, sich das Leben ohne Informatik zu erleichtern. Lifehacks sind Tipps und Tricks meist in Form von Netzvideos, mit denen sich ungelöste Alltagsprobleme beheben oder lästige Alltagsarbeiten abkürzen lassen. Das geht dann zum Beispiel so:

Eigelb von Eiweiss trennen? Vergessen Sie alles, was Sie je gelernt haben. Schlagen Sie das Ei auf und geben Sie alles in einen Teller. Drücken Sie dann eine leere PET-Flasche zusammen, halten Sie die Öffnung behutsam aufs Eigelb und lassen Sie sachte los – Eigelb wird aufgesaugt, Eiweiss bleibt im Teller.

Oder: Schuhe binden, so dass sich die Schnürsenkel nicht wieder öffnen? Doppelknoten? Brachiale Gewalt? Von wegen. Die allerletzte Schleife des gewohnten Knotens binden Sie einfach genau andersrum. Verblüffend, aber wahr – dieser Knoten hält. Garantiert.

Ob Ladekabel, die man ordentlich aufrollt und in leere Klopapierrollen klemmt oder Äpfel, die man mit Bohrmaschine und Messer in Sekundenschnelle schält: Lifehacks sind selten frei von Komik, aber immer sind sie erfinderisch und kreativ. Was einst als Spleen begann, ist heute ein Update auf ein Leben 2.0.

Büroklammer

Ein Stückchen Draht, zu zwei rechteckigen Schlaufen gebogen, und fertig ist die Erfindung, die lose Blätter zuverlässig zusammenkneift: Die Büroklammer ist so einfach wie genial.

Nur wer der geniale Erfinder ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Paper clips, wie die Büroklammern auf Englisch heissen, gibt es nämlich schon lange – eckig und rund, mit einer oder mit zwei Schlaufen. Seit 1890 werden sie in England industriell hergestellt, doch ein Patent auf unsere heutige Klammer – mitsamt der Fabrikationsmaschine – erhält erst am 7. November 1899 der Amerikaner William Middlebrook aus Connecticut. Und so tritt die mit Zink, Messing oder Kupfer beschichtete und damit rostfreie Drahtklammer ihren Siegeszug an.

Der simple Draht allerdings kann mehr, viel mehr: Nur mit einer Büroklammer liessen sich Mac-Disketten auswerfen, wenn der Servomotor mal wieder streikte, nur mit ihr lassen sich SIM-Karten in Handys einsetzen, und – einen sterbenslangweiligen Arbeitstag vorausgesetzt – sie lässt sich zu einem funktionsfähigen Kreisel biegen, wie der japanische Physikprofessor Takao Sakai herausgefunden hat. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie gar zum Nationalsymbol von Norwegen: Nach der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht im April 1940 begannen die Menschen an Kragen und Revers Büroklammern zu tragen, zum Zeichen des nationalen Zusammenhalts und des Widerstandes gegen die Nazis.

Und damit ist die Büroklammer ist nicht nur ein patenter Helfer, sondern auch ein Stückchen Weltgeschichte.

Farinet, Joseph-Samuel

Es gibt zweieinhalb Wege, um zu Geld zu kommen: arbeiten oder stehlen. Der dritte, es zu fälschen, ist bestenfalls ein halber, und wer ihn geht, steht mit einem Bein im Gefängnis.

Einer, der diesen Weg unverdrossen und mit grossem Geschick gegangen ist, war der 1845 im Aostatal geborene Bauernsohn Joseph-Samuel Farinet. Zusammen mit seinen Gehilfen fälschte Farinet nicht etwa Banknoten, wie dies die meisten seiner Berufskollegen tun, sondern vielmehr 20-Rappenstücke. Aus gutem Grund: Zum einen waren in den 1870-er Jahren 20 Rappen gutes Geld, und zum anderen genossen die Münzen das Vertrauen der Händler und Bauern, ganz anders als das Papiergeld der wegen Fehlspekulationen in Schieflage geratenen Walliser Kantonalbank.

Mehr als zehn Jahre lang brachte Farinet so viele 20-Räppler in Umlauf, dass am Ende ein Drittel aller Münzen sogenannte Farinets gewesen sein sollen. Von der schieren Menge an Falschgeld alarmiert, griff schliesslich der Bundesrat ein und verlangte von der Walliser Regierung die Festnahme des dreisten Falschmünzers. In einer Schlucht bei Saillon in die Enge getrieben, fand Farinet am 17. April 1880 den Tod – ausgerutscht und in die Tiefe gestürzt, behauptete die Polizei; kaltblütig erschossen, erzählten sich dagegen die Dörfler.

Literatur und Film haben Farinet ein Denkmal als «Robin Hood der Alpen» gesetzt, doch die Wahrheit ist viel prosaischer. Sein Leben war eine einzige Flucht: vor dem Elend und vor dem Gesetz.

Schlitzohr

Das Ohr macht den Unterschied zwischen gut und Tunichtgut: Der Handwerksgeselle auf der Walz trägt einen Ohrring, nach alter Väter Sitte mit Hammer und Nagel ins mit Alkohol desinfizierte Ohrläppchen geschlagen. Dieser Ring diente einst als eiserne Reserve für Notzeiten oder, im schlimmsten Fall, für ein anständiges Begräbnis. Vor allem aber war er ein Ehrenzeichen. Dem Gesellen, der sich etwas zuschulden kommen liess, pflegte man den Ohrring kurzerhand auszureissen – die Narbe brandmarkte ihren Träger fortan als Schlitzohr.

Die Walz ist eine jahrhundertealte Tradition: Es sind die Wanderjahre, die der Handwerksgeselle nach seiner Lehrzeit absolviert, um zur Meisterprüfung zugelassen zu werden. Der Brauch ist klar geregelt: Ein Geselle, ein Zimmermann, Dachdecker oder Schreiner etwa, ist ledig, hat keine Kinder und keine Schulden – die Walz ist keine Flucht vor der Verantwortung. Während der Wanderschaft, die mindestens drei Jahre und einen Tag lang dauert, darf der Geselle seinem Heimatort nicht näher kommen als 50 Kilometer. Er geht zu Fuss oder per Anhalter; Bahn und Bus sind verpönt. Gearbeitet wird hier und da, überall, wo es Arbeit gibt.

Wandergesellen sind selten geworden, doch man erkennt sie an ihrer Uniform: Da ist die Kluft mit den Perlmuttknöpfen, dazu die weite Hose aus Samt, deren glockenförmige Beine vor Sägemehl schützen. Da sind der Stenz genannte Stock und das Bündel mit Wäsche und Werkzeug, der so genannte Charlottenburger. Da ist schliesslich der schwarze Hut mit der breiten Krempe, und darunter – so ist zu hoffen – ein unversehrtes Ohr.