Schlitzohr

Das Ohr macht den Unterschied zwischen gut und Tunichtgut: Der Handwerksgeselle auf der Walz trägt einen Ohrring, nach alter Väter Sitte mit Hammer und Nagel ins mit Alkohol desinfizierte Ohrläppchen geschlagen. Dieser Ring diente einst als eiserne Reserve für Notzeiten oder, im schlimmsten Fall, für ein anständiges Begräbnis. Vor allem aber war er ein Ehrenzeichen. Dem Gesellen, der sich etwas zuschulden kommen liess, pflegte man den Ohrring kurzerhand auszureissen – die Narbe brandmarkte ihren Träger fortan als Schlitzohr.

Die Walz ist eine jahrhundertealte Tradition: Es sind die Wanderjahre, die der Handwerksgeselle nach seiner Lehrzeit absolviert, um zur Meisterprüfung zugelassen zu werden. Der Brauch ist klar geregelt: Ein Geselle, ein Zimmermann, Dachdecker oder Schreiner etwa, ist ledig, hat keine Kinder und keine Schulden – die Walz ist keine Flucht vor der Verantwortung. Während der Wanderschaft, die mindestens drei Jahre und einen Tag lang dauert, darf der Geselle seinem Heimatort nicht näher kommen als 50 Kilometer. Er geht zu Fuss oder per Anhalter; Bahn und Bus sind verpönt. Gearbeitet wird hier und da, überall, wo es Arbeit gibt.

Wandergesellen sind selten geworden, doch man erkennt sie an ihrer Uniform: Da ist die Kluft mit den Perlmuttknöpfen, dazu die weite Hose aus Samt, deren glockenförmige Beine vor Sägemehl schützen. Da sind der Stenz genannte Stock und das Bündel mit Wäsche und Werkzeug, der so genannte Charlottenburger. Da ist schliesslich der schwarze Hut mit der breiten Krempe, und darunter – so ist zu hoffen – ein unversehrtes Ohr.

Schuh

Der Schuh ist so alt wie die Menschheit selbst. 120 000 Jahre alte Ahlen aus Knochen zeigen, dass schon die Neandertaler Fellstücke zu einer Art Stiefel zusammengenäht haben. Aus dem Fusssack gegen die Kälte wurde mit der Zeit der heutige Mokassin, aus unter die Füsse gebundenen Palmblättern die Sandale – tatsächlich sind die ältesten, in Fort Rock, Oregon, gefundenen Schuhe indianische Sandalen, die vor über 10 000 Jahren hergestellt wurden.

Mit Schuh ist der Fuss anderen Belastungen ausgesetzt als ohne. Das verändert mit der Zeit das Skelett, und solche Mutationen lassen sich schon an den fossilen Knochen von Steinzeitmenschen nachweisen, die in der Tianyuan-Höhle bei Peking gelebt haben. Alt ist auch das Wort: Der Ursprung ist vermutlich die indoeuropäische Silbe sko – und so heisst «Schuh» in ganz Skandinavien bis heute.

Wenn ein Schuhmacher einen Schuh herstellt, benutzt er seit jeher einen Schusterleisten, eine Holzform in der Form eines Fusses – von ihm kommt die Redensart «Schuster, bleib bei deinem Leisten». Zwei gut erhaltene römische Schuhleisten wurden 2007 in Oberwinterthur gefunden. Bei der Herstellung eines soccus (eines bei Römerinnen beliebten leichten Schuhs, von dem auch unsere «Socke» abstammt) wurde zuerst Oberleder und Innensohle mit der Innenseite nach aussen zusammengenäht. Damit die Nähte später innen lagen und die Laufsohle aufgenäht werden konnte, musste der Schuh nach aussen gestülpt werden. Und dank diesem Kniff sagen wir bis heute: «Umgekehrt wird ein Schuh draus».

Schwundgeld

Wie kommt man zu Geld? Die Frage ist fast so alt wie die Menschheit, und im Grunde gibt es darauf nur zwei Antworten: Entweder man arbeitet dafür, oder man knöpft es anderen ab. Letzteres leuchtete nicht nur Strassenräubern ein, sondern auch den Fürsten des Mittelalters. Zum Beispiel Wichmann von Seeburg: Im Jahr 1154 wurde er zum Erzbischof von Magdeburg geweiht und damit zu einem der bedeutendsten Kirchenfürsten der Zeit. Seine Idee: Einmal geprägt, wurden die Magdeburger Münzen alle sechs Monate «verrufen», d.h. kurzerhand für ungültig erklärt. Die alten Münzen konnten danach zwar in die frisch geprägten umgetauscht werden, doch obwohl das alte und das neue Geld denselben Gold- oder Silbergehalt aufwiesen, erhielten die Bürger für zwölf alte Münzen nur noch neun neue. Ein volles Viertel ging so an den Erzbischof, der damit Kirchen und Kriege finanzierte.

Mit der Erfindung dieses «Schwundgeldes» schlug Wichmann zwei Fliegen auf einen Streich: Zum einen flossen der Staatskasse so alle sechs Monate beträchtliche Geldmengen zu, und zum anderen wurde der Geldumlauf enorm beschleunigt, denn um dem empfindlichen Wertverlust zu entgehen, brachten Bürger, Handwerker und Händler die als «rostendes Geld» verspotteten Pfennige rasch wieder in Umlauf. Der Konsum kam in Schwung, und die Wirtschaft begann zu blühen.

Dieses radikale Konzept einer 25-prozentigen Kapitalsteuer war ein mittelalterlicher Erfolg, und während der grossen Depression 1932/33 kam der Bürgermeister des Tiroler Dorfs Wörgl auf die Idee, eigenes Schwundgeld drucken zu lassen, Banknoten, auf die jeden Monat Marken im Wert von einem Prozent ihres Werts aufgeklebt werden mussten. Wörgls Wirtschaft kam erstaunlich gut durch die Krise – bis die österreichische Nationalbank dem illegalen Experiment, unter Androhung eines Armeeeinsatzes, 1933 ein abruptes Ende setzte.

Smiley

Er ist eine Ikone des Glücklichseins: der gelbe Kreis mit zwei Punkten und einem aufwärts gerichteten Bogen, den wir als strahlendes Lächeln interpretieren und der in der Notation Semikolon-Bindestrich-Klammer mittlerweile jeden zweiten Satz ziert.

«Emoticon» nennt man solch stilisierte Fröhlichkeit, und zur Welt kam der Smiley – korrekt übrigens mit -ey und nicht etwa mit -ie geschrieben – im Jahr 1953. Um den Kitschfilm «Lili» mit Leslie Caron in der Hauptrolle bekannt zu machen, schalteten die Verleiher handgezeichnete Inserate, die zur Untermalung des Versprechens «Today you’ll laugh, cry, love» von drei lachenden, weinenden und liebenden Ur-Smileys geziert wurden. Der moderne Smiley – gelber Kreis, ovale schwarze Augen, Grübchen – ist bereits die Version 2.0. Gezeichnet hat ihn im Dezember 1963 der amerikanische Kriegsveteran und Werbegrafiker Harvey Ball, in 10 Minuten und im Auftrag einer Versicherung, die nach einer feindlichen Übernahme mit lustigen Anstecknadeln das Betriebsklima wieder heben wollte. Die Anstecker verbreiteten sich epidemisch, von den Angestellten und deren Familien übers ganze Land.

Der gelbe Strahlemann wirbt heute für alles, wofür es sich zu werben lohnt und macht viele Menschen reich. Allen voran den französischen Unternehmensberater Franklin Loufrani: Der meldete 1971 ein leicht verändertes Grinsen zum Patent an, das er sich zur Kennzeichnung der guten Nachrichten seines Auftraggebers «France Soir» angeblich selbst ausgedacht hatte. Loufrani ist heute Multimillionär und hält die Smiley-Nutzungsrechte in über 80 Ländern.

Erfinder Harvey Ball dagegen ging bis zu seinem Tod 2001 leer aus. Das Honorar für seinen Ur-Smiley waren gerade mal 45 Dollar.

Stewi

Der Stewi ist ein Stück Schweiz. Nur: Wer hat’s erfunden? Nein: Nicht die Schweizer. Seinen ersten Auftritt hat der Stewi (so heisst er übrigens nur in der Schweiz; in Deutschland ist das ein Wäscheschirm oder eine Wäschespinne) in einer britischen Patentschrift von 1923. Ausgeheckt haben ihn die beiden Ingenieure Frederick Fairbourn und William Stevenson. Bis anhin pflegte man die Wäsche an fest montierten Gestellen mit langen Leinen aufzuhängen, was nicht nur mit einiger Laufarbeit verbunden ist, sondern auch viel Platz braucht. Das futuristische Gerät namens Rotary Folding Clothes Dryer ist anders: Es lässt sich drehen, so dass man beim Aufhängen an Ort und Stelle stehenbleiben kann, und ist die Wäsche einmal trocken, lässt sich der Schirm ruckzuck zusammenklappen, aus der Halterung ziehen und wegräumen.

Seinen Namen verdankt der Stewi dem findigen Schweizer Unternehmer Walter Steiner. 1947 beginnt der 26-Jährige in einem Anbau des elterlichen Wohnhauses in Winterthur-Töss, nach britischem Vorbild Klappschirme zu bauen – die ersten Modelle noch aus Holz und mit einer Wäscheleine aus Hanf. Sein Unternehmen nennt er Stewi (aus «Steiner» und «Winterthur»), und sein Ziel ist es, «der Hausfrau die Arbeit so einfach wie möglich zu machen», wie er sagt. Steiners Taktik ist clever: Kunden, die an viel befahrenen Strassen oder Bahnlinien wohnen, bekommen Rabatt. Die modernen Gestelle mit ihren keck ausgestreckten Armen erregen Aufsehen und werden immer öfter gekauft. Aus der Werkstatt wird eine Firma, aus dem Tüftler ein Patron – und aus der britischen Wäschespinne der Schweizer Stewi, der noch heute in jedem zweiten Garten steht.