Scheisstag

Die feudalen Zeiten waren hart. Von Hauspersonal und Landarbeiterinnen wurde quasi rund um die Uhr Dienst erwartet, was allerdings allein schon aus biologischen Gründen unmöglich war: Wenn das Personal seine Notdurft verrichtete, stand es dem Dienstherrn notgedrungen eine Weile nicht zur Verfügung.

Gegen Ende des Jahres pflegten Bauern daher nachzurechnen, wie viel Zeit ihre Bediensteten insgesamt auf dem stillen Örtchen verbracht hatten. Übers ganze Jahr gesehen kam so einiges zusammen, und wenn das Arbeitsleben zwischen Weihnacht und Neujahr zum Stillstand kam, mussten Mägde und Knechte diese verpasste Zeit nachholen. Darüber waren sie nicht sonderlich erfreut – und in der Namensgebung wenig zimperlich:

Scheißtage nennt das Gesinde in Bayern die 1–3 Tage, welche sie über den eigentlichen Termin hinaus in dem Hause, das sie verlassen wollen, noch im Dienste bleiben, gleichsam um die während ihres Dienstes durch Erledigung des Bedürfnisses verlorene Zeit dem Dienstherrn wieder einzubringen.

So steht es im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm.

Solche «Scheisstage» gab es nicht nur in Bayern, und sie waren, je nach Gegend, nach Lichtmess abzuleisten, also nach dem 2. Februar, meist aber am 29. Dezember, bei ganz besonders geizigen Dienstherren auch am 31. Dezember. So feierte das findige Personal Silvester halt schon einen Tag früher, und deshalb, so will es die Legende, heisst der 30. Dezember auch «Bauernsilvester».

Schlamassel

Nach dem Segen trinkt das Brautpaar einen Schluck Wein aus einem Becher; so will es der jüdische Hochzeitsbrauch. Der Becher wird danach in ein Tuch gehüllt, der Bräutigam tritt darauf, und die Gäste rufen «Masel tov!». Das Zertreten des Glases soll dabei an die Eroberung von Jerusalem und die Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. erinnern. Auf Jiddisch heisst der Glückwunsch Masel tov, auf Hebräisch Mazal tov. Beides bedeutet frei übersetzt «viel Glück» oder «gutes Gelingen». Das Wort «Massel», laut Duden der Ausdruck für unverdientes, unerwartetes Glück, ist schliesslich auch ins Deutsche eingewandert.

Und doch liegt es auf der Hand, dass man im Leben nicht immer nur Massel haben kann. Wenn man also gehörig Pech hat, dann ist das auf Jiddisch ein schlimasl, Unglück. Das Wort schlimasl, so steht es im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm zu lesen,

entstammt der jüdischen Gaunersprache, sein zweiter Theil entspricht dem jüdischen mazal, Glücksstern, das als Masel, Massel in der Gaunersprache gebräuchlich ist.

Aus diesem jiddischen schlimasl und vielleicht auch in Verbindung mit dem Adjektiv «schlimm» ist im 18. Jh. in Deutschland der Schlamassel geworden (und in Österreich die «Schlimastik»), der Ort also, in dem wir immer dann stecken, wenn wir in einer schwierigen, verfahrenen Lage sind – oder, um’s mit demselben jiddischen Wort zu sagen: wenn wir etwas gehörig vermasselt haben.

Schlitzohr

Das Ohr macht den Unterschied zwischen gut und Tunichtgut: Der Handwerksgeselle auf der Walz trägt einen Ohrring, nach alter Väter Sitte mit Hammer und Nagel ins mit Alkohol desinfizierte Ohrläppchen geschlagen. Dieser Ring diente einst als eiserne Reserve für Notzeiten oder, im schlimmsten Fall, für ein anständiges Begräbnis. Vor allem aber war er ein Ehrenzeichen. Dem Gesellen, der sich etwas zuschulden kommen liess, pflegte man den Ohrring kurzerhand auszureissen – die Narbe brandmarkte ihren Träger fortan als Schlitzohr.

Die Walz ist eine jahrhundertealte Tradition: Es sind die Wanderjahre, die der Handwerksgeselle nach seiner Lehrzeit absolviert, um zur Meisterprüfung zugelassen zu werden. Der Brauch ist klar geregelt: Ein Geselle, ein Zimmermann, Dachdecker oder Schreiner etwa, ist ledig, hat keine Kinder und keine Schulden – die Walz ist keine Flucht vor der Verantwortung. Während der Wanderschaft, die mindestens drei Jahre und einen Tag lang dauert, darf der Geselle seinem Heimatort nicht näher kommen als 50 Kilometer. Er geht zu Fuss oder per Anhalter; Bahn und Bus sind verpönt. Gearbeitet wird hier und da, überall, wo es Arbeit gibt.

Wandergesellen sind selten geworden, doch man erkennt sie an ihrer Uniform: Da ist die Kluft mit den Perlmuttknöpfen, dazu die weite Hose aus Samt, deren glockenförmige Beine vor Sägemehl schützen. Da sind der Stenz genannte Stock und das Bündel mit Wäsche und Werkzeug, der so genannte Charlottenburger. Da ist schliesslich der schwarze Hut mit der breiten Krempe, und darunter – so ist zu hoffen – ein unversehrtes Ohr.

Serviette

Wenn’s um Tischmanieren geht, waren die alten Römer Barbaren. Im «Gastmahl des Trimalchio», das uns der römische Dichter Titus Petronius in seinem Roman «Satyricon» vor Augen führt, tragen Dutzende Sklaven die erlesensten Speisen auf: In Honig und Mehl gebackene Haselmäuse, mit lebendigen Drosseln gefüllte Kuchenteigschweine und in Pfeffersauce schwimmenden Bratfisch. Unerlässliches Requisit dieses Inbegriffs der Dekadenz: Die lateinische mappa, die Serviette. Genaugenommen waren es deren zwei: Die grössere diente dazu, die mit teuren Stoffen bezogene Liege vor Flecken zu bewahren, die kleinere wurde in der linken Hand gehalten und diente als Mundtuch.

Mit Rom ging im 5. Jahrhundert auch die Serviette unter. Im dunklen Mittelalter pflegte man sich den Mund mit dem Ärmel und die Finger mit dem Tischtuch abzuwischen. Erst im 16. Jahrhundert entdeckte der Adel die Serviette neu. Das französische Wort bedeutet wörtlich «kleine Dienerin», und tatsächlich pflegten Bedienstete mit dem «Tellertuch», wie es auf Deutsch hiess, das Gedeck der hohen Gäste abzuwischen.

Ob Damast, Leinen oder Papier: Ohne Serviette nehmen wir heute keinen Happen mehr zu uns. Bei McDonald’s gibt’s zum Burger gleich ein halbes Dutzend davon. Meistens jedenfalls: Der 59-jährige Webster Lucas hatte Anfang 2014 zu seinem Big Mac eine einzige Papierserviette erhalten; eine zweite sei ihm, seiner Hautfarbe wegen und «aus rassistischen Gründen», verweigert worden. Einen Gratis-Burger zur Beschwichtigung schlug Lucas aus und verklagte McDonald’s stattdessen auf Schadenersatz. Im Umfang von 1,5 Millionen Dollar.

Sexagesimalsystem

Was uns die Zehn ist, war den alten Babyloniern die Sechzig: Das Sexagesimalsystem (vom lateinischen Wort sexagesimus, der Sechzigste) ist weit intuitiver, als man meinen könnte. Mit ihm lässt sich nämlich effizient zählen, mit den Fingern einer Hand bis zwölf und mit beiden Händen sogar bis 60. Das geht so: Für die Zahl eins berührt der Daumen das obere Fingerglied des kleinen Fingers derselben Hand, für die Zahl zwei das mittlere und für drei das untere Fingerglied des kleinen Fingers. Für die Zahl vier geht es dann mit dem oberen Glied des Ringfingers weiter, bis das Dutzend am unteren Ende des Zeigefingers erreicht ist. Mit der anderen Hand streckt man dann für jedes volle Dutzend einen Finger aus. Noch heute wird in Teilen der Türkei, im mittleren Osten und in Indien auf diese Weise gezählt.

Um 3300 v. Chr., in Sumer, dem heutigen südöstlichen Irak, war das Sexagesimalsystem noch ein reines Additionssystem – die fragliche Zahl ergab sich aus dem Addieren der einzelnen Ziffern. Ab 2000 v. Chr. dagegen entwickelten die Babylonier daraus ein modernes Stellenwertsystem, das genauso funktioniert wie unser heutiges Dezimalsystem, nur eben auf der Basis von 60: Einstellige Zahlen reichten so von 1 bis 59, zweistellige bis 3599.

Babylon war die führende Wissenschaftsnation der Zeit, und weil sich die babylonische Astronomie allmählich über Ägypten und Griechenland nach Europa ausbreitete, rechnen wir heute noch bei Winkelgraden, Stunden, Minuten und Sekunden mit Zahlen aus längst vergangenen Zeiten.