Schweizer-Käse-Modell

Irren ist menschlich, und wir alle machen Fehler. Daher verfügen komplexe Systeme wie Flugzeuge, Kliniken oder Kraftwerke über ein ganzes Arsenal von Schutzmechanismen, Alarmen, Barrieren oder Abschaltvorrichtungen. Diese Vorkehrungen sind in Schichten angelegt, so dass ein Fehler in einer Schicht spätestens von der nächsten aufgefangen wird. Im Jahr 2000 untersuchte der britische Psychologe James Reason eine ganze Reihe von Untersuchungsberichten, zum Atomunfall von Tschernobyl etwa, zur Giftgaskatastrophe von Bhopal oder der Explosion der Raumfähre «Challenger» – und erfand das «Schweizer-Käse-Modell».

«In einer idealen Welt ist jede Verteidigungsschicht intakt», schrieb Reason in seiner Studie. «In der Realität aber sind Sicherheitsmassnahmen eher wie Scheiben eines Schweizer Käses, die viele Löcher haben.» Reasons Metapher leuchtet ein: Jede einzelne Käsescheibe mag zwar da und dort ein Loch haben, aber kaum je an derselben Stelle wie die nächste. Und doch zeigt die Erfahrung, dass irgendwann irgendwo lauter Löcher übereinander zu liegen kommen und ein Fehler bis zur Katastrophe durchrutscht. Und zu verhindern, dass so etwas passiert, greifen Fachleute bei der Risikoanalyse bis heute zum «Schweizer-Käse-Modell». Sie suchen nach Löchern – zum Beispiel zu ähnliche Arzneimittelpackungen in der Spitalapotheke, die, wenn dicht an dicht gelagert, zu Verwechslungen führen können. Eine neue Käsescheibe kann vorsehen, dass die Medikamente anders verpackt und nicht mehr am selben Ort gelagert werden.

Shampoo

Georg IV war unbeliebt. Der britische König galt als Lebemann und Frauenheld, und seine Verschwendungssucht trug wenig dazu bei, seinen Ruf zu bessern. Obwohl stets knapp bei Kasse, liess King George 1815 im aufstrebenden Badeort Brighton den «Royal Pavilion» bauen, einen Palast, wie ihn England noch nie gesehen hatte – ein Prachtbau mit Säulenkolonnaden und Zwiebeltürmen im Stil indischer Maharadschapaläste, mit vergoldeten Möbeln, chinesischen Seidentapeten und einem tonnenschweren Kristalllüster in Form eines Drachen. Die oft viele Stunden langen Diners mit bis zu 100 Gängen hinterliessen ihre Spuren: King George trank zuviel, wurde fett, litt an Ödemen, Gicht und konnte sich am Ende nur noch in einem eigens für ihn konstruierten Rollstuhl fortbewegen. Das einzige, was half, waren Bäder und Massagen.

Der beste Masseur in Brighton war ein eingewanderter Bengale namens Sake Dean Mohammed. Mohammed, ein gewiefter Unternehmer, bot Dampfbäder und Massagen an, die er nach einem alten Hindi-Wort Shampoo nannte. Ein Shampoo war eine indische Kopfmassage mit pflanzlichen Pulvern oder Duftölen, und daraus machte Mohammed ein modernes Wellnessangebot für die oberen Zehntausend. Seine Shampoos erfreuten sich bald grosser Beliebtheit, allem voran bei King George höchstselbst, und bald verlieh der seinem Masseur den offiziellen Titel «Shampooing Surgeon of the King», Massage-Leibarzt des Königs. Erste Kosmetikhersteller entdeckten das verheissungsvolle Wort, und heute ist das Haarwaschmittel ganz selbstverständlich ein Shampoo.

Sirup

Sirup selber machen ist einfach: Früchte je nach Saison, mit etwas Wasser kochen, sieben, mit Zucker erneut aufkochen und heiss abfüllen – fertig ist der Sirup. Lagert man ihn kühl und dunkel, ist er monatelang haltbar.

Doch Sirup schmeckt nicht nur süss, er kann auch ein Medikament sein.

Was kranckheit ein mensch thuet peladen, dem kan ich helffn mit gottes gnaden durch ein sirob oder recebt, das seiner kranckheit widerstrebt, das der mensch wirt wider gesund,

dichtete im 16. Jh. der Nürnberger Meistersinger Hans Sachs. Sirup als Arznei, bei Verdauungsbeschwerden oder gegen Husten, kennen wir heute noch.

Das Wort Sirup kommt vom mittellateinischen siropus, und das wiederum aus der arabischen Heilkunde. Im «Kanon der Medizin», dem über Jahrhunderte einflussreichen Werk des persischen Arztes Ibn Sina aus dem 11. Jh., spielt die Herstellung heilender Sirupe eine wichtige Rolle. Heute dagegen bezeichnet das arabische شراب («scharab») von Saft bis Wein so gut wie jedes Getränk.

Softdrinks haben dem althergebrachten Sirup längst den Rang abgelaufen. Und doch sind sie im Grunde nichts anderes: Fruchtsaft- oder anderes Konzentrat ist leicht und kostengünstig zu transportieren; für den Offenausschank muss der Sirup nur noch mit Wasser verdünnt und mit Kohlensäure versetzt werden – «Postmix» nennt man das Verfahren. Ob Fanta, Sprite, Pepsi oder Cola: Am Anfang war auch hier der Sirup.

Tetra-Pak

Stadtkinder haben es schon immer gewusst: Die Milch kommt aus dem Tetra-Pak, einer genialen Erfindung, die zwar aus Karton, aber durchaus nicht von Pappe ist. Die Genies, das waren zwei Schweden: der junge Chemiker Erik Wallenberg und der Ingenieur Harry Järund, die sich 1943 eine völlig neue Verpackung für Milch ausdachten. Die hatte die Form eines Tetraeders – ein Körper mit vier Dreiecksflächen –, wie geschaffen für die Verpackungsindustrie. Ein Schlauch aus beschichtetem Karton wurde mit Milch gefüllt, um 90 Grad verdreht, abgeklemmt, verschweisst und abgeschnitten. So entstanden die charakteristischen Milchkartons mit ihren vier Ecken (tetra heisst griechisch vier), die dem Pak den Namen gaben. 1961, mit der ersten Schweizer Anlage, die Milch keimfrei abfüllte, gelang Tetra-Pak der internationale Durchbruch. Letztes Jahr wurden 74 Milliarden Liter Getränke in Tetra-Paks abgefüllt, die Menge, die in neun Stunden durch den Rhein fliesst.

Die spitze Dreiecksform, 1951 auf den Markt gebracht, war zwar modern, aber nicht sehr praktisch. Heute werden Milch, Fruchtsaft und sogar Rotwein in Kartons abgefüllt, die die Form von Ziegelsteinen haben und viel besser stapelbar sind. Auch wenn dieser Pappkamerad eigentlich Tetra-Brik heisst: Der Volksmund weiss es besser.

Heute ist Tetra-Pak nicht nur die Quelle, aus der die Milch fliesst, sondern auch ein Konzern mit 22 000 Mitarbeitern, mit Sitz im schweizerischen Pully und mit dem Motto «Schützt, was gut ist.» Damit sind beileibe nicht nur Getränke gemeint: Tetra-Pak besitzt 12 000 eingetragene Marken und Patente.

Zunder

«Brennen wie Zunder» ist eine Redensart, und falsch ist sie obendrein. Zunder ist ein glockenförmiger Schwamm, der als Parasit auf dem Stamm von Laubbäumen wuchert, bis 30 Jahre alt und bis 30 Zentimeter gross wird, und der zum Feuermachen dient, aber nicht brennt, sondern glimmt.

Von Zunder und Feuerstein ist der Mensch seit jeher Feuer und Flamme. Schon in der Steinzeit wurde mit dem getrockneten Pilzgewebe gezündelt – auch Ötzi hatte Zunder dabei, als er vor 5300 Jahren von einem Pfeil in den Rücken getroffen wurde. In der Neuzeit wurde die Zunderherstellung raffinierter. Man entdeckte, dass die Mittelschicht des Schwamms – gekocht, geklopft, in Urin eingelegt und getrocknet – einen rehbraunen Filz ergibt, der buchstäblich beim ersten Funken zu glimmen beginnt.

Doch der Zunderschwamm, lateinisch fomes fomentarius oder französisch amadouvier, kann noch viel mehr. Im Mittelalter machte man aus ihm Westen oder Kappen – noch heute werden in Rumänien Zunderhüte und -taschen an Touristen verkauft. Bis ins 19. Jahrhundert war Zunder auch eine Heilpflanze: Als blutstillenden Verband gab es den so genannten fungus chirurgorum oder Wundschwamm beim Apotheker zu kaufen. Die Nachfrage nach dem braunen Gewächs war zeitweise so gross, dass der in Asien, Nordamerika und Europa überall heimische Zunder gar importiert werden musste. Heute hat der korkartige Schwamm nur noch einen dekorativen Zweck: Man findet ihn auf dem Blumengesteck oder auf dem Grabkranz.

Das ist durchaus stimmig, denn am Stamm alter, kranker Bäume ist er ein übler Schädling: Zunder verursacht Fäule und lässt die Birke, Buche oder Eiche am Ende brechen.