Polstab

Auf dem Weg der Sonne von Ost nach West wandert der Schatten des Stabes einer Sonnenuhr im Gegenuhrzeigersinn über das Zifferblatt und zeigt die Zeit an. Bei heutigen Sonnenuhren steht der Stab in der Regel schräg. Er zeigt auf den Himmelsnordpol – in Richtung des Polarsterns – und heisst deshalb Polstab.

Die Vorläufer von Polstabuhren hatten Schattenstäbe, die ganz einfach rechtwinklig vom Zifferblatt abstanden. Sie heissen «kanonial», weil sie in mittelalterlichen Klöstern dazu dienten, die Gebetszeiten anzuzeigen. Die älteste kanoniale Sonnenuhr der Welt haben Forscherinnen der Uni Basel 2013 im Tal der Könige in Ägypten entdeckt: ein flaches Stück Kalkstein, auf dessen glatte Vorderseite ein Arbeiter säuberlich die zwölf Tagesstunden aufgemalt hatte – vor sage und schreibe 3200 Jahren.

Der Nachteil dieser Sonnenuhren mit rechtwinkligen Schattenstäben: Sie sind ungenau. Weil der Sonnenstand von der Jahreszeit abhängt, sind die Winkel der Stundenlinien unterschiedlich – neun Uhr im Sommer ist anders als neun Uhr im Winter.

Die Lösung für dieses Problem fanden die alten Griechen: den Polstab, auf Griechisch polos, der genau im Winkel der geografischen Breite zur Mittagslinie geneigt ist – in der Schweiz sind das zwischen 46 und 47,5 Grad. Der Polstab war eine kleine Revolution der Zeitmessung: Er verläuft parallel zur Erdachse, und damit fällt die Jahreszeit nicht mehr ins Gewicht. Denn der Schatten fällt zur selben Tageszeit immer auf dieselbe Linie, unabhängig davon, ob gerade Winter oder Sommer ist.

Tschernobyl

Es ist still in Pripjat, jener Geisterstadt nördlich von Kiew, in der Ukraine, nahe der Grenze zu Weissrussland. Totenstill. Erst 1970 – zusammen mit dem Kernkraftwerk Tschernobyl – für die Arbeiter und ihre Familien gebaut, wurde Pripjat in den letzten Apriltagen 1986 vollständig geräumt.

Denn kurz zuvor, am 26. April, war Block 4 des Kraftwerks nach einer missglückten Notfallübung des Chefingenieurs Anatoli Djatlow «instabil» geworden, wie es hiess. Noch während der Turbinenmeister den Nachlauf der gewaltigen Lager prüfte, setzte im Reaktorraum eine Kernschmelze ein. Die diensthabenden Techniker bemerkten die Kettenreaktion Augenblicke zu spät, die über dem Uran hängenden Steuerstäbe klemmten im sich bereits verformenden Reaktor. Unterhalb des Betondecke bildeten sich grosse Mengen von Wasserstoffgas, eine gewaltige Explosion zerriss das Gebäude und setzte die Graphitbeschichtung in Brand, während sich der schmelzende Reaktorkern langsam in die Tiefe frass. Tagelang wüteten schwere Brände, die mit Bor, aus Helikoptern abgeworfen, mit Blei, Dolomit, Sand und Lehm, von so genannten «Liquidatoren» herbeigeschafft, erstickt werden sollten.

Bis zu 800 000 Aufräumarbeiter waren es, die die Hinterlassenschaft einer der grössten technologischen Katastrophen unserer Zeit beseitigen sollten. 1000 von ihnen wurden allein am ersten Tag tödlich verstrahlt; wieviele genau geopfert wurden, bleibt bis heute geheim.

Die Arbeiterfamilien in der Kraftwerksstadt Pripjat wurden innert Stunden aus ihren Wohnungen, die Kinder aus Schulen und Kindergärten geholt, in Busse verfrachtet und evakuiert. Noch jahrelang wurden die leeren Gebäude mit Abwärme der verbleibenden Tschernobyl-Reaktoren weiter beheizt – wenn sie verfallen, wird ihr Staub über das fruchtbare Land wehen und den Boden weiter verstrahlen.

Wetter

Wenn die Leute mit mir über das Wetter reden, bin ich mir stets sicher, dass sie etwas ganz anderes meinen,

kalauerte Oscar Wilde 1895. Ohne es zu wissen, tun sie das tatsächlich: nämlich den Wind. Das Wort «Wetter» heisst in allen germanischen Sprachen so (auf Englisch weather, norwegisch vær, schwedisch väder, dänisch vejr, isländisch veður). «Wetter» kommt vom indoeuropäischen Wort weðra, und das bedeutete «Wind» – so gesehen meint «Wind und Wetter» heute im Grunde ein und dasselbe. «Wetter» ist denn auch verwandt mit «wehen» und mit «wedeln».

Was wir «Wetter» nennen, spielt sich in der unteren Atmosphäre ab, der sogenannten Troposphäre, und es lässt sich mit Messgrössen beschreiben wie Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, Drucktendenz, Windrichtung, Windgeschwindigkeit, Bewölkung, Niederschlag und Sichtweite. So weit, so klar.

Und doch sorgt das Wetter auch für Missverständnisse. Als Kinder wurden wir ermahnt, immer schön alles aufzuessen, damit das Wetter wieder gut wird. Sprachgeschichtlich gesehen sind unsere Eltern hier einem Missverständnis zum Opfer gefallen. Die Redensart stammt nämlich aus dem Plattdeutschen und lautet

Et dien Töller leddig, dann givt dat morgen goods wedder.

Wedder heisst auf Platt aber nicht «Wetter», sondern «wieder», und so heisst die Redensart «Iss deinen Teller leer, dann gibt es auch morgen wieder etwas Gutes» – von schönem Wetter ist da nicht die Rede.

Zement

Es könnte unscheinbarer nicht sein: das graue Pulver, das auf keiner Baustelle fehlt – der Zement. High Tech sieht anders aus. Und doch ist der Zement der Stoff, aus dem buchstäblich die Neuzeit besteht.

Der moderne Zement, der so genannte Portlandzement, wurde 1824 vom Briten Joseph Aspdin erfunden, in jahrelangen Experimenten im Hinterhof seines Geschäfts im Zentrum von Leeds. Aspdin war so eine Art Alchemist des 19. Jahrhunderts, auf der Suche nach dem Stein der Weisen – sein Patent mit der Nummer 5022 trägt den Titel: Improvements in the modes of producing an artificial stone – Verbesserte Herstellung von künstlichem Stein.

Aspdins Erfindung war eine ausgeklügelte Mischung aus gemahlenem Kalkstein und Ton, der sich brennen, mit Wasser anrühren und mit Bruchstein vermischen liess – und der nach dem Trocknen einen beständigen Baustoff ergab. Portland nannte Aspdin seinen Zement deshalb, weil Kalkstein von der gleichnamigen Insel im Ärmelkanal beim Bau von Prestigebauten grosse Mode war: Aus Portland-Stein besteht etwa der Bankettsaal von Whitehall in London, den sich 1619 der Stuart-König James I bauen liess, und ebenso das UNO-Hauptquartier in New York.

Zement, dieser geniale Leim der Baumeister, aber ist noch viel älter. Zementiert haben schon die alten Römer. Das Wort kommt von caedere, «mit dem Meissel zerschlagen» oder «hauen». Tatsächlich hat der römische Kaiser Hadrian schon in den Jahren 118-125 nach Christus aus sogenanntem opus caementitium, einer Art Beton aus gebranntem Kalk und Bruchstein, auf dem Marsfeld das Pantheon bauen lassen, einen allen Göttern Roms geweihten Tempel. Bis auf den heutigen Tag ist das kreisrunde Dach des Pantheons die grösste nicht-bewehrte Kuppel der Welt.

Zement, dieser römische Stein der Weisen, ist buchstäblich ein Stein für die Ewigkeit.