Fremdenfeindlichkeit ist erfinderisch, besonders was die Sprache angeht. Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde ein Gastarbeiter aus Italien Tschingg genannt. Der Tschingg galt als laut, schmutzig, faul und dumm. Tschingg, das war in Sprache gegossene Verachtung.
Dabei ist sein Ursprung denkbar heiter. Das schlimme Wort geht nämlich auf ein jahrtausendealtes Spiel zurück. Es nennt sich «Morra», wird mit den Händen gespielt und war namentlich in Italien weit verbreitet. Zwei Spieler versuchen in atemberaubendem Tempo, die Summe zweier Zahlen zu erraten, die sie mit den Fingern anzeigen. Beide strecken sie einen bis fünf Finger ihrer rechten Hand aus, und gleichzeitig rufen sie eine Zahl zwischen 2 und 10. Wer die richtige Summe trifft, erhält einen Punkt. Erreicht ein Spieler das vereinbarte Total, etwa von 16 oder 21, hat er gewonnen. Anders als man annehmen könnte, ist «Morra» kein reines Glücksspiel; es kommt auch auf Beobachtungsgabe, Gedächtnis und die Einschätzung des Gegners an.
«Morra» wurde von den Gastarbeitern vor allem in den Pausen gespielt. Weil dabei die Zahlen laut gerufen werden (und weil aus Gründen der Statistik die Zahlen 5, 6 und 7 am häufigsten vorkommen), war immer wieder dieses fremdartige Wort cinch zu hören, die Kurzform von cinque, «fünf». Der Ausdruck wurde zum Inbegriff des Fremden, und so hiess ein Arbeiter aus dem Süden bald einmal Tschingg.
In Italien ist «Morra» heute selten geworden; da und dort versuchen Vereine das alte Spiel als Tradition zu bewahren. Das böse Wort Tschingg aber, so ist zu hoffen, ist fast gänzlich ausgestorben.