«Tabula rasa» ist ein Neuanfang: Wir machen reinen Tisch und fangen nochmal ganz von vorn an.
Nur heisst das lateinische tabula rasa auf Deutsch eben nicht «reinen Tisch machen» – das ist eine Fehlübersetzung, weil tabula nicht «Tisch», sondern «Tafel» bedeutet. Im alten Rom war Papyrus für den täglichen Gebrauch zu teuer, und so machte man sich Notizen, indem man mit einem einfachen Stift aus Metall auf Wachstafeln schrieb. War die Tafel voll, griff man sich die nächste, und wurde das Geschriebene am Ende nicht mehr gebraucht, machte man tabula rasa – auf Deutsch «geschabte Tafel» – und wischte das eingedellte Wachs kurzerhand wieder glatt. Das war mitunter leichter gesagt als getan: Hatte man wie Marcus Tullius Tiro, der Sklave und Sekretär des Anwalts und Politikers Cicero, nicht bloss Stichwörter, sondern ganze Senatssitzungen wortgetreu protokolliert – tironische Noten, wie die von Tiro eigens entwickelte Kurzschrift hiess –, dann hatte man ein schönes Stück Arbeit vor sich, bis man am Ende wieder glatte, leere Wachstafeln vor sich hatte.
Tabula rasa, das unbeschriebene Blatt, wurde schon bei den alten Griechen zum Sprachbild für die Reinheit der Seele und des Geistes, bevor diese mit Eindrücken und Erfahrungen beschrieben und geprägt werden. Im 13. Jahrhundert berief sich Thomas von Aquin auf Aristoteles und nannte den menschlichen Intellekt eine tabula rasa, weil die Intelligenz seiner Ansicht nach am Anfang erst als Möglichkeit vorhanden sei. Wirklich intelligent, so schrieb er, würden wir erst im Lauf der Zeit, durch Lernen und Erfahren, also quasi durch den Griffel des Lebens.