Die Harvard University ist sozusagen der Olymp der Wissenschaft. Hier lehrt der Ökonom, Philosoph und Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. Sein Forschungsgebiet ist Armut. Und das kam so.
Amartya Sen stammt aus dem indischen Bundesstaat Westbengalen. 1933 in einem wohlhabenden Elternhaus geboren, erlebte der achtjährige Sen einen Schock: Auf offener Strasse wurde der muslimische Tagelöhner Kader Mia von einem extremistischen Hindu niedergestochen. Schwer verletzt schleppte sich Mia zum Haus der Familie Sen. Auf dem Weg ins Spital flüsterte der Sterbende, seine Frau habe ihn genau davor gewarnt: als Ausländer in einem Land sozialer Unrast Arbeit zu suchen; doch weil seine Familie nichts zu essen habe, sei ihm nichts anderes übrig geblieben. «Der Tod dieses Mannes hat mich geprägt», schreibt Sen in einem biografischen Essay. «Er hat mir klargemacht, dass ökonomische Unfreiheit einen Menschen zum hilflosen Opfer macht.»
Und so begann Amartya Sen, die Zusammenhänge zwischen ökonomischer Freiheit und sozialen Chancen zu untersuchen. Ihm fiel auf, dass die Wissenschaft das Phänomen der Armut ausgesprochen eindimensional betrachtete. Nicht einfach die Verteilung von Gütern bestimme, ob jemand arm sei, stellte Sen fest: Entscheidend sei vielmehr, wie viele Chancen auf Verwirklichung seiner Ziele ein Mensch habe. Diese capabilities seien es, die seinen Grad an ökonomischer Freiheit bestimmten.
Trotz all des Elends, das Amartya Sen erforscht, hat er sich seinen Schalk bewahrt: «Ich habe an vielen grossen Universitäten gelehrt», steht in seinem Lebenslauf zu lesen. «Einen anständigen nichtakademischen Job hatte ich nie.»